Dimension 12
Zone BX-n ein bedeutend gefährlicherer Zwischenfall. Ein schlangenartiges schwarzes Wesen von mehr als Baumeslänge war heil an Gift und Strom vorbeigelangt. Es streckte dreißig Meter lange Fühler aus, die an den Enden mit Saugnäpfen versehen waren, und begann zu klettern. Höher und höher klomm es, bis es in der Mitte des Seewalls klebte und sich einer der Saugnäpfe an einen Stein klammerte, der nur mehr knapp fünf Meter unter dem oberen Mauerrand lag. Diese Berührung löste den Resonanzkreis aus. Die Frequenz der donnernden Schallwellen erreichte etliche Millionen Kilohertz. Das Meer kochte und schäumte. Die Saugnäpfe lösten sich, das Wesen stürzte ab und zerschmetterte an den Grundmauern.
Micah-IV hatte noch nie etwas Aufregendes erlebt. Zwölf Stunden täglich marschierte er von der südlichen Grenze von KF-7 zur nördlichen Grenze von KF-5 und beobachtete das Meer. Manchmal schoß der zitronengelbe Torpedo eines Tieres, dessen Schuppen in der Sonne glitzerten, weit außerhalb der Giftzone vorbei. Gräßliche Mäuler voll Drachenzähnen tauchten aus dem Wasser, lange Fühler peitschten die Oberfläche, oder eine spitzkantige Flosse zerschnitt die Fluten.
Die Ungeheuer wagten sich nicht heran. Früher hatten sie sich ihre Beute aus den Strandsiedlungen geholt, denn die meisten dieser Tiere konnten ein bis zwei Stunden an Land atmen. Seit jedoch der Seewall stand, war es vorbei mit diesen Raubzügen. Die Landbewohner waren vor den Gruselgestalten des Meeres sicher. Ausgesperrt und enttäuscht, tummelten sich die riesigen Bestien in ihrem eigenen salzigen Element. Hie und da kam es zwischen ihnen zu Kämpfen. Dann bebten die Kontinente.
Zwölf Stunden täglich hatte Micah-IV das Bollwerk zu bewachen. Zwölf Stunden ruhte er in den Baracken der Wachmannschaft aus. Sein Dienst war einfach. Er patrouillierte auf dem oberen Gehweg und hielt Ausschau nach einem ungebetenen Eindringling aus dem Meer. Für den Fall, daß eines der Ungeheuer anzugreifen versuchte, mußte er seine Dienststelle verständigen. Auch die Erhaltung des Walles zählte zu seinen Pflichten. Er mußte eventuelle Schäden oder Materialermüdungen melden, ehe sie bedenklich wurden.
Seit kurzem hatte Micah-IV auch mit den Menschen zu tun, die zeitweise auf den Wall stiegen, um aufs Meer zu schauen.
Zumeist kamen ganze Familien von fünf bis sechs Personen. Micah-IV begrüßte sie höflich, erläuterte die Konstruktion des Walles und zeigte ihnen die jagenden Ungeheuer im Meer. Er tröstete Kinder, die erschraken, labte Frauen, denen übel wurde. Wagte sich ein Mann leichtsinnig zu nahe an das niedere Schutzgitter auf der Mauer heran, bat Micah-IV ihn taktvoll, doch ein wenig zurückzutreten. Man konnte nie wissen, wann sich von unten ein Saugfühler emporschob.
Es war ein eintöniger, mechanischer Dienst, den kein Mensch übernehmen wollte. Als synthetisches Wesen war Micah-IV besser imstande, die Langweile zu ertragen. Er bewachte den Seewall jetzt schon über zehn Jahre. Jedes dritte Jahr mußte er allerdings eine Pause einlegen und den Druck der aufgestauten Langweile entfernen lassen, aber das war auch schon alles.
Weg nach oben. Weg nach unten. Augen rechts. Augen links. Meer beobachten. Ufer beobachten. Alle zwei Stunden den Resonanzkreis nachstellen. Alle drei Stunden Meldung an die Zentrale. Besucherzentrum im Fernsehschirm beobachten.
Salzwassergeruch in raffiniert konstruierten Nasenlöchern.
Schaumkronen auf dem Meeresspiegel. Giganten in der Tiefe.
Heimlich sehnte sich Micah-IV nach einem Zwischenfall. Laß doch ein Ungeheuer auf den Wall klettern, wünschte er. Oder laß eine Besucherin oben auf dem Wall entbinden. Laß den Blitz in einen Steinquader einschlagen, daß er zerfällt. Irgend etwas Neues, Unvorgesehenes, damit auch Zone KF-6 in die Geschichte des Seewalles eingehen konnte.
Im nächsten Jahr mußte er wieder überholt werden. Deshalb litt er schon so sehr unter der Sehnsucht nach Abwechslung.
Erwartungsvoll starrte er auf die Bestien, die das Wasser aufwirbelten, und wartete auf ihren Angriff. Aber sie griffen nicht an. Sie wußten genau, daß der Wall uneinnehmbar war. Die Zeiten, zu denen räubernde Meeresungeheuer Hunderte von Menschen fraßen, waren ein für allemal vorbei.
Als sich in Micah-IV’s Berufslaufbahn aber tatsächlich etwas Unerwartetes ereignete, war er nicht imstande, die Tragödie zu verhindern. Und das war wirklich ärgerlich.
Er befand sich beinahe am südlichen Ende des ihm
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