Dimension 12
treten konnte, während sich der Wächter am entgegengesetzten Ende befand?
Die Rüge hatte keine greifbaren Folgen für Micah-IV. Er wurde weder degradiert, noch wurden sein Gehalt oder seine Pensionsansprüche gekürzt, weil er nichts dergleichen hatte. Er war kein Angestellter, sondern eher ein Bestandteil des Apparates. Aber der Tadel schmälerte sein Ansehen bei den Kollegen. Die Neuigkeit sprach sich rasch herum. Die Aufseher der anderen Sektoren erfuhren, daß Micah-IV einen Tadel erhalten hatte. Er war vor den Mitbewohnern der Baracke blamiert, weil er in seinem Sektor einen Selbstmord zugelassen hatte.
Über einen Monat lebte Micah-IV mit dieser Schmach.
Daher fühlte er sich ungemein erleichtert, als ein zweiter Selbstmord gemeldet wurde. Die Begleitumstände waren die gleichen wie beim erstenmal. Eine junge Frau hatte sich in DV-7 Zutritt zum Wall verschafft, während sich der Aufseher am anderen Ende seines Sektors befand. Sie war mit dem Fallschirm auf dem Strand gelandet, war ins Wasser gewatet, zu den wartenden Ungeheuern und damit in ihren sicheren Tod geschwommen.
In den Besuchergalerien wurden verstärkte Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Micah-IV fühlte sich wohlig erregt, weil jetzt jeder Tag etwas Unerwartetes bringen konnte. Zwar war nicht damit zu rechnen, daß die Seeungeheuer auf den Wall klettern oder ein Teil der Mauer einstürzen würde, und genau gegen diese beiden Möglichkeiten richtete sich sein Wachdienst. Es war jedoch höchstwahrscheinlich, daß schon bald irgendein unvernünftiger Mensch vom Wall springen und seinen Untergang heraufbeschwören würde.
Der dritte Selbstmörder/in FC-10 hatte keinen Fallschirm. Das Opfer – ein Halbwüchsiger – stürzte sechzig Meter tief und zerschellte auf dem felsigen Strand. Damit war zwar irgendein Ungeheuer um seinen Happen betrogen, aber dafür mästeten sich die Aasvögel.
Ein vierter Selbstmord wurde gemeldet.
Ein fünfter.
Ein sechster und siebenter.
Hilflose Aufseher beschleunigten ihr Tempo und schritten ihre Zone in zwei Dritteln der früheren Zeit ab. Man sprach davon, die Besuchergalerien überhaupt zu schließen, aber daraus wurde nichts. Wegen einer Handvoll Perverser durfte man nicht Millionen Menschen den Anblick des Meeres vorenthalten.
Ein Beamter mit öliger grauer Haut und kleinen grünen Augen sprach vor einem Kader von Synthesern: »Unter den Menschen ist ein ansteckender Selbstmordkult ausgebrochen. Ihr müßt alles in euren Kräften Stehende tun, um weitere Todesfälle zu vermeiden. Es gibt nichts Wertvolleres als das menschliche Leben.«
Der Beamte mit der öligen grauen Haut und den kleinen grünen Augen war der dreiundzwanzigste Selbstmörder.
Wieder wurde eine Versammlung einberufen, vor der ein Psychiater mit borstigem Haar erklärte: »In gemeinsamer Arbeit hat das Volk den Seewall erbaut. Erst jetzt machen sich die Folgen dieser Anstrengung bemerkbar. Indem der einzelne Bürger den Tod im Meer sucht, will er das gewaltige gemeinsame Werk vernichten. Da die Ungeheuer nicht mehr an Land kommen können, gehen die Menschen zu den Ungeheuern.«
Das war eine plausible Theorie. Kurz darauf bewies der Psychiater sie mit seinem eigenen Freitod.
Micah-IV versah seinen Dienst. Unermüdlich marschierte er durch Sturmböen und salzige Gischt. Jede Touristengruppe – und deren gab es jetzt viel mehr als früher – musterte er ungerührt und versuchte, Selbstmordsymptome an den Besuchern zu entdecken. Wirst du dich zu töten versuchen, du Dicke? Oder du, junger Mann mit dem flackernden Blick? Oder du, nervöser Vater zweier Kinder?
Die Besucher betraten den Seewall jetzt nur mehr in Dreiergruppen. Der Aufseher hielt sich dicht an ihrer Seite. Trotzdem gelang es mehreren Menschen, sich dem Zugriff des Aufsehers zu entziehen und von der Mauer zu springen.
Micah-IV lauschte interessiert, als Noah-I, einer der klügsten Syntheser, in den Baracken seine Ansichten äußerte.
»Das Ganze ist ein religiöses Phänomen«, verkündete Noah-I. »Ich habe Religion studiert. Diese Leute sind vom Drang zum Meer besessen. Sie müssen zurück zur Urmutter.«
»Und zu den Ungeheuern, die sie auffressen?« fragte Exekiel-VII.
»Das ist nebensächlich. Jede Tat ist mit Gefahren verbunden. Die Schwimmer hoffen, den Ungeheuern zu entkommen und die Meerestiefen zu erreichen. Das ist ein religiöses Verlangen.«
»Und wohin wird das führen?« fragte Uzziah-III.
»Vielleicht wird der Wall niedergerissen«, meinte Noah-I. »Oder
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