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Dimension 12

Dimension 12

Titel: Dimension 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ein neuer Kult entsteht. Oder vielleicht stürzen sich nach und nach alle Menschen ins Meer.«
    Die Todesfälle rissen nicht ab. Inzwischen waren einige hundert Menschen gestorben und beinahe jede Zehn-Sektoren-Leitstelle hatte ihre Selbstmordmeldung. Neue Vorbeugungsmaßnahmen wurden erlassen. Man hoffte, daß der Winter eine Veränderung des psychologischen Klimas mit sich bringen würde, aber die Selbstzerstörungswut war nicht einzudämmen.
    An einem verschneiten Tag gelang es Micah-IV, einen Selbstmord beinahe zu verhindern.
    Er hatte rechtzeitig die verdächtigen Anzeichen bemerkt: Die Kleider einer rothaarigen Frau bauschten sich, als hätte sie einen Fallschirm darunter versteckt, und ihre Augen glänzten verdächtig. Als er seine Besuchergruppe auf den Seewall führte, ließ er sie nicht aus den Augen.
    »Dort drüben seht ihr einen der Erzfeinde der Menschen«, sagte er und zeigte aufs Meer. »Seht ihr die gezackten Schwanzflossen? Die mächtigen Hauer? Die langen Krallen?«
    Die Rothaarige löste sich plötzlich von den anderen und rannte auf das Schutzgitter zu.
    Micah-IV hatte etwas Ähnliches erwartet und folgte ihr rasch nach, Sie hockte neben dem Gitter und schob sich den Fallschirm zurecht. Seit kurzem stand das Schutzgitter unter Strom, um jeden, der es zu erklettern versuchte, durch einen leichten Schlag abzuschrecken. Mit einem Fallschirm war es jedoch nicht besonders schwierig, über das Gitter zu springen. Die Frau setzte zum Sprung an, aber Micah-IV packte sie am Arm und hielt sie fest.
    »Alle anderen gehen sofort hinein!« brüllte er. »Marsch, marsch!«
    Die beiden anderen Besucher liefen zur Besuchergalerie, Micah-IV hielt die Lebensmüde fest umklammert.
    »Laß mich los!« rief sie.
    »Warum willst du hinunterspringen?«
    »Das geht dich nichts an! Laß los!«
    »Im Meer gehst du zugrunde.«
    »Na und? Was geht’s dich an? Wie kannst du es wagen, einen menschlichen Befehl zu mißachten, du dreckiger Roboter! Laß mich los und laß mich springen!«
    »Ich bin ein Syntheser, kein Roboter«, berichtigte Micah-IV nachsichtig. »Menschlichen Befehlen muß ich nur so weit gehorchen, als sie sich mit meiner Programmierung decken. Ich verbiete dir, den Wall zu verlassen.« Behende zog er den Fallschirm unter ihrem Kleid hervor, ohne deshalb die Frau freizulassen. Sie sah ihn wütend an.
    »Sag mir, warum du ins Meer willst«, bat er.
    »Du würdest es doch nicht verstehen. Du bist bloß eine Maschine.«
    »Genetisch gesehen, bin ich beinahe menschlich. Ich kann denken und überlegen und meine Ansichten ändern. Diese Selbstmordwelle beunruhigt mich sehr. Warum willst du dich ins Meer stürzen?«
    »Um eins mit ihm zu werden«, sagte die Frau.
    »Das begreife ich nicht.«
    »Das habe ich dir gleich gesagt. Halte mich nicht auf. Laß mich springen.«
    »Das darf ich nicht«, antwortete Micah-IV und zog sie vom Wall zurück. Ihre Worte kränkten ihn. Zeit seines Lebens hatte er wenig Gelegenheit gehabt, mit Menschen zu sprechen, und nie zuvor hatte ihn jemand derart brutal daran erinnert, daß er selbst kein Mensch war. Auch ein Produkt der Retorte war nicht ohne Empfindungen! Die Frau hatte seine Gefühle verletzt. Er tat sich ziemlich leid.
    Knapp vor dem Eingang zur Besuchergalerie glitt Micah-IV auf einem halb geschmolzenen Schneerest aus. Zwar erlangte er gleich wieder das Gleichgewicht, aber der Augenblick hatte der Rothaarigen genügt, um sich loszureißen und ans Schutzgitter zu laufen. Micah-IV rannte ihr nach. Sie erreichte das stromführende Geländer, sprang darüber, daß ihre Haare sekundenlang wie Drähte in die Höhe standen, und dann war sie verschwunden. Sie stürzte, wurde vom Wind abgetrieben und schlug auf den Felsen auf. Die Aasvögel schwirrten herbei.
    Das wird mir einen schweren Tadel eintragen, dachte Micah-IV.
    Schließlich gibt es Augenzeugen. Durch meine Unachtsamkeit konnte sie Selbstmord begehen.
    Er starrte aufs graue, sturmgepeitschte Meer hinaus. Hinter dem Giftstreifen sah er die dunklen Umrisse der Meeresungeheuer.
    Warum töten sie sich? Was finden sie in der See? Was treibt sie zu dieser Wahnsinnstat?
    Er wußte es nicht. Ich kann das nicht verstehen, weil ich kein Mensch bin, dachte er.
    Geistesabwesend kletterte Micah-IV auf das Schutzgitter und ging oben weiter. Der Schwachstrom schadete seinem Nervensystem nicht. Er marschierte hundert Meter nach Süden. Dort gab es keinen Strand, kein Felsufer. Das Meer schlug direkt gegen den Wall.
    Ich werde eine

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