Dimension 12
Rocklin schloß die Augen und überließ sich seinem ohnmächtigen Zorn. Zwölf Stockwerke tiefer, im Zentrum der Klinik, flammte das rote Licht eines Kontrollgeräts auf, und der medizinische Assistent, der die Sichtschirme dieses Stockwerks überwachte, drückte automatisch auf einen Knopf. Zwölf Stockwerke höher berührte eine mit Ultraschall betriebene Spritzpistole Rocklins Arm, und in Sekundenschnelle war er eingeschlafen, während Beruhigungsmittel die Wutfermente neutralisierten, die sein Körper erzeugt hatte.
Er schlief.
Die Gummirollen kneteten seinen genesenden Leib.
Warme Nährlösung badete ihn, wurde aus dem Tank gepumpt und erneuert. Das abgestorbene Gewebe war abgeschliffen worden, nachdem man seinen froststarren Körper im Schnee gefunden hatte. Mit entblößten Nerven und hautlos lag er im Tank, ein geschundenes Stück Fleisch, das langsam verheilte. Da die Haut imstande war, sich zu erneuern, waren keinerlei Transplantationen nötig. Die Tage vergingen, und die Hautzellen vermehrten sich stetig, Rocklin lag mehr schlafend als wach in seinem Tank.
Unsichtbare Schläuche besorgten den Stoffwechsel für ihn. Es war ein stumpfes Dahinvegetieren und dem Tod so ähnlich, daß es ihn kaum störte, noch am Leben zu sein.
Die Zeitspannen, in denen er bei Bewußtsein war, verlängerten sich allmählich, und er dachte über das vergangene Jahr nach.
Er dachte an seinen Bruder Jeff, der in einem Hagelschauer explodierenden Metalls gestorben war.
Er dachte an den Tag, an dem er sich die Pulsadern aufgeschnitten und zugesehen hatte, wie das Blut über die Kacheln des Badezimmers geflossen war.
Er dachte an den Abend, als er ins Armenviertel der Stadt gegangen war und ein altes Haus betreten hatte, in dessen Küche noch ein Gasherd stand. Er hatte die Gashähne geöffnet, die Fenster verklebt und gewartet.
Er dachte, wie er im warmen, weichen Schnee gelegen hatte.
Heutzutage gönnten sie einem nicht mal einen anständigen Tod. Diese verdammten Elektronenaugen waren allgegenwärtig, speicherten Informationen und spieen sie wieder aus. Wieso hatten sie ihn in seinem versperrten Badezimmer entdeckt, als er langsam verblutete? Er wußte es nicht. Aber ein massiver Robot-Diener hatte die Tür eingedrückt und ihn gerettet. Wieso hatten sie von dem Gasherd gewußt? Wie hatten sie ihn im Schnee gefunden?
Augen.
Überall Augen.
Und jetzt würden es nicht nur Augen sein, sondern auch Hände und eine Stimme und ein Körper, die ihn daran hindern sollten, sich etwas anzutun. Ein Begleiter. Rocklin kniff die Lippen zusammen. Niemand verstand ihn. Sie redeten großartig über die Unantastbarkeit des Lebens und gönnten ihm nicht den Tod.
Eines Tages ließen sie die Nährflüssigkeit gänzlich ab. Die Ärzte blickten die Instrumente an und nickten, und die Greiferrollen gaben ihn frei, der Tank öffnete sich, und zum erstenmal seit sieben Wochen betrachtete Rocklin seinen nackten Leib.
Er sah rosig und neu und unbehaart aus. Vier Zehen fehlten ihm, an jedem Fuß die beiden äußeren. An ihrer Stelle standen kleine Fleischknospen. Auch sein linker kleiner Finger war fort.
»In etwa eineinhalb Jahren ist alles wieder vollständig nachgewachsen«, versicherten ihm die Ärzte.
Er nickte gleichmütig.
Seine Haut sah aus wie neugeboren. Wenn er mit dem Finger gegen den Schenkel drückte, blieb lange Zeit ein weißer Fleck zurück, der sich allmählich feuerrot färbte. Langsam hob er ein Bein. Obwohl seine Muskel regelmäßig trainiert worden waren, zitterten die Sehnen unter der ungewohnten Anstrengung.
»Drei Wochen physikalische Behandlung, und Sie sind wieder der alte«, sagte man ihm.
Seine Mutter war nicht erschienen, als er aus dem Tank gehoben wurde. Aber sein Vater sah zu, wie ihn die Gummistützen aus dem Brutkasten hoben, in dem er seit Ende Januar gelegen hatte. Dann stellten sie ihn behutsam auf. Im ersten Augenblick wurde er noch gestützt, dann stand er aus eigener Kraft. Geschwächt und taumelnd versuchte er zu gehen. Man hüllte ihn in einen Mantel. Er schwankte und hätte sich gern hingesetzt, weil er zu stürzen glaubte, aber sofort rückte der Servo hinter ihm näher, schob sich sanft unter seine Achseln und stützte ihn neuerlich.
»Nach Beendigung deiner Behandlung trittst du eine Erholungsreise an. Ein Jahr unterwegs müßte genügen, um dein seelisches Gleichgewicht wieder einigermaßen herzustellen«, sagte sein Vater.
Rocklin grinste. »Dann bin ich also ein schwarzes Schaf des
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