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Dimension 12

Dimension 12

Titel: Dimension 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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unermüdlichen Wachsamkeit. Auf diese Weise hielten sie die Menschen gegen ihren Willen am Leben.
    Und er verstand es, sich beliebt zu machen.
    Schon nach wenigen Tagen hatte sich Rocklins ursprüngliche Abneigung gelegt. Zwar haßte er die Vorstellung, dauernd einen Begleiter um sich zu haben, und haßte seinen Vater, dem er diese Dauerkontrolle verdankte – aber Roy ließ ihn rasch einsehen, daß es sinnlos war, den Begleiter selbst zu hassen.
    Sie wurden Freunde.
    Der Begleiter nahm an Rocklins Behandlung teil. Früh und abends spielten sie jeweils eine Stunde mit dem Medizinball. Sie tummelten sich im Schwimmbecken der Klinik. Sie stemmten Gewichte. Roy war Rocklins Schatten. Duschte Rocklin in den Umkleideräumen, dann stand Roy neben ihm unter der Brause. Sein schlanker, geschlechtsloser violetter Körper glitzerte unter dem Sprühregen.
    »Du brauchst nicht zu duschen«, sagte Rocklin. »Du hast Ja nicht geschwitzt.«
    Roy lächelte. »Aber ich spüre das kalte Wasser gern auf der Haut.«
    »Unter der Brause kann ich mich doch nicht töten. Was befürchtest du denn? Daß ich das heiße Wasser laufen lasse und mich verbrühe?«
    »Du könntest auf der Seife ausgleiten«, meinte Roy. »Ich bin hier, um dich aufzufangen, bevor du dir den Schädel entzwei schlägst.«
    »Wer begeht schon einen derart albernen Selbstmord?«
    Roy lächelte. »Ich soll dich aber auch vor ungewollten Unfällen behüten. Deine Eltern sind darauf versessen, daß du sie überlebst.«
    »Offenbar«, sagte Rocklin, drehte das Wasser ab und drückte auf den automatischen Handtuchspender.
    Die pausenlose Überwachung durch den Begleiter ging ihm auf die Nerven. Es gab nichts, was sie nicht gemeinsam taten, und nachts wachte der Homunkulus in seinem Zimmer, Vierundzwanzig Stunden täglich beobachtet zu werden, konnte leicht zur Unerträglichkeit ausarten. Rocklin staunte selbst, daß das nicht der Fall war.
    Roy war ein guter Begleiter. Stets war er mit einem Scherz oder einer frechen Bemerkung zur Hand. Er nahm weder sich noch seinen Arbeitgeber ernst.
    Die Wochen vergingen. Rocklins Haut war dicker geworden, seine Kraft zurückgekehrt und die knospenden Ansätze seiner Zehen und des kleinen Fingers wuchsen deutlich. Die tägliche Stunde beim Psychotherapeuten machte ihn heiter und äußerlich ruhig. Er hoffte, daß niemand ahnte, wie sehr in seinem Innern die Schuldgefühle und Selbstanklagen schwärten, die ihn bereits dreimal zum Selbstmord getrieben hatten. Er wollte die Klinik verlassen dürfen. Der Begleiter war schon schlimm genug, aber ein ganzes Heer von Ärzten und Apparaturen und Fernsehschirmen machten die Selbstvernichtung unmöglich. In der Klinik konnte er seinen Begleiter nicht überlisten. Dazu brauchte er eine andere Umgebung.
    Endlich brach der Tag seiner Entlassung an. Inzwischen war es Mitte April geworden, und er befand sich in ausgezeichneter Verfassung. Seine Eltern kamen nicht, um sich von ihm zu verabschieden. Statt dessen traf eine Expreßsendung für Roy ein.
    Der Begleiter öffnete das Päckchen.
    »Was ist drinnen?« fragte Rocklin.
    »Flugkarten für Raumschiffe. Hotelbestellungen. Kreditbriefe. Und Geld.« Roy lächelte. »Junge, Junge, das wird eine Reise werden.«
    Am dritten Tag der neuntägigen Reise nach Huyckman IV unternahm Rocklin den vierten Selbstmordversuch. Langsam hatten sich die Depressionen wieder eingestellt, und ein kalter Klumpen in der Magengegend sagte ihm Tag und Nacht, daß er kein Recht hatte zu leben. Ein streitsüchtiger Betrunkener in der Schiffsbar hatte die Katastrophe mit einer zufälligen Bemerkung über die Feigheit einiger Diplomaten bei einem antiterranischen Aufstand auf Vorrilan ausgelöst. »Die feigen Schweine hätten Sie sehen sollen!« rief der Mann aus. »Ich saß mit ihnen in der Botschaft fest, und sie machten sich in die Hosen, sooft ein Vorrilander eine Stinkbombe durchs Fenster warf: Es gibt nichts Erbärmlicheres als einen Fünfzigjährigen, der eine solche Angst vor dem Sterben hat, daß er sich in die Hosen macht. Zum Teufel, was ist denn so fürchterlich am Tode? Man könnte meinen…«
    »Seien Sie still«, sagte Rocklin.
    »Wie, bitte?«
    »Sie sollen den Mund halten, habe ich gesagt. Ihr Gerede ist mir lästig.«
    Roy zog ihn fürsorglich in einen anderen Teil der Bar. Aber die in wochenlangen Bemühungen errungene Ruhe war in einem einzigen Augenblick zerschlagen. Es dauerte noch zwei Tage, bis der Wurm der Selbstverachtung Rocklins Lebensnerv erreicht

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