Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
Gib mir Kraft. Während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, schob er sich schließlich Zentimeter für Zentimeter unter dem Karren hervor und rappelte sich hoch.
    Es war leicht, diejenigen ausfindig zu machen, die Hilfe brauchten; die Körper, die sich bewegten, hoben sich von den Toten ab. Er folgte den Befehlen eines Arztes, eines schnurrbärtigen Mannes, dessen rechtes Bein blutdurchtränkt war. Gemeinsam mit den anderen unter Schock stehenden Überlebenden zerrissen sie Mäntel, um Blut zustauen, hoben die Verwundeten auf behelfsmäßige Tragen, bedeckten sie mit Säcken, zerfetzten Wolldecken oder was immer sie sonst finden konnten. Elias arbeitete so automatisch wie irgend möglich, bezwang seine Übelkeit und versuchte so zu tun, als wären dies nicht echte Menschen, die binnen Sekunden massakriert worden waren. Nein, dies war keine Mutter, die gerade um Brot für ihre Kinder angestanden hatte; dies kein Junge, der losgerannt war, damit sein kleiner Bruder nicht von einem Gemüsekarren überfahren wurde.
    »Alles wird gut«, sagte er zu denen, die noch atmeten, ein ums andere Mal. »Alles wird gut.«
    Plötzlich begann sein Herz so stark zu hämmern, dass er daran zu ersticken glaubte. »Sind Sie es?« Seine Stimme war vor Angst belegt. »Nina Bronnikowa?«
    Es war ganz sicher Nina, auch wenn sie seit ihrer letzten Begegnung sehr abgenommen hatte. Ihr Gesicht war weiß, und ihre Lippen wirkten so blass, als wäre alles Blut aus ihnen gewichen. Sie lag an eine mit Sandsäcken gefüllte Straßenbahn gelehnt, die den Zugang zum Marktplatz versperrt hatte; der Metallrahmen war entzweigebrochen.
    »Herr Eliasberg?« Sie streckte die mit Blut bedeckten Hände nach ihm aus.
    Er ging neben ihr in die Knie. »Wie schlimm sind Sie verletzt?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe versucht aufzustehen, aber es geht nicht.« Ihre linke Wade war eine Masse aus zerfetztem Fleisch, Granatsplittern und blutgetränkten Strümpfen.
    Ihm wurde schlecht. Schnell sah er ihr ins Gesicht. »Sie sind noch bei Bewusstsein. Das ist ein Wunder.«
    »Ein Wunder, dass hier irgendjemand noch lebt«, murmelte sie.
    »Wir müssen –«, begann Elias.
    Doch ihre Augen hatten sich geschlossen, und ihr Kopf knallte gegen die Seite der Straßenbahn.
    Panisch ergriff er ihr Handgelenk und fühlte ihren Puls. Nichts. Doch an ihrem Hals spürte er ein schwaches Flattern. Er nahm ihren Kopf in beide Hände. Langsam öffnete sie die Augen und sah ihn benommen an.
    »Wir müssen Sie in ein Krankenhaus bringen. Meinen Sie, Sie schaffen es bis zu dem Krankenwagen dort?« Vorsichtig, als wäre sie ein zerbrechliches Musikinstrument, legte er ihren Arm um seinen Nacken. »Halten Sie sich fest, wenn Sie können.«
    Sie war leichter, als er gedacht hatte, und dennoch stolperte er, als er sich aufrichtete; seine Beine waren beschämend schwach. Ein schlaksiger Junge stand in der Nähe und starrte sie ausdruckslos an, Blut tröpfelte unter seiner Mütze hervor. »Könntest du mir helfen?« Wortlos trat der Junge vor, und zusammen trugen sie Nina zu dem Wagen. Er war schon voller Verwundeter, doch niemand protestierte, als sie Nina ganz hinten auf den letzten leeren Fleck legten.
    »Nina?« Elias strich ihr über die Stirn – aber sie hatte wieder das Bewusstsein verloren, und er musste zurücktreten, weil der Motor ansprang.
    Der Junge ging ohne ein Wort davon, und Elias beobachtete, wie der Krankenwagen sich über den zerstörten Marktplatz schlängelte. Als der Wagen verschwunden war, blieb er noch lange dort im Schatten des kaputten Brunnens stehen, ohne jemanden an seiner Seite, ohne jemanden zum Reden zu haben, und beides war ihm schmerzlich bewusst. Fast zornig wischte er sich die Tränen aus den Augen. Schließlich war er es gewohnt, allein zu sein. Es gab keinen Grund, deswegen zu weinen.
Verwandte
    Tante Tanja zog auf unabsehbare Zeit bei Nikolai ein und kommandierte, tantenhaft wie immer, herum, obwohl niemand mehr da war, der sie »Tante« nennen konnte. Einoderzweimal rutschte Nikolai diese Anrede heraus. In Gegenwart seiner Schwägerin fühlte er sich stets wie zur jüngeren Generation gehörig – als müsste er seine Zunge hüten und seine Zigaretten verstecken. Wenn er geglaubt hatte, dass die Wahrscheinlichkeit, ausgehungert oder bombardiert zu werden, Tanja dazu bringen würde, ihre Ansprüche zu senken, dann hatte er sich getäuscht.
    Sie war in einem Zustand der Entrüstung und des Schocks zu ihm gekommen; ihr rötlich-braunes Haar

Weitere Kostenlose Bücher