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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Plappere hier über meine Arbeit, bleibe in meinem Zimmer, während alle anderen um ihr Leben rennen.« Er ließ den Blick über den Horizont schweifen, der vor Waffen und den plumpen Betonunterständen der Scharfschützen strotzte. »Dies ist die Realität.«
    »Ihre Arbeit ist auch real. Sie sprachen vom Unerwarteten. Meinten Sie das Scherzo?«
    »Reden wir nicht mehr davon.« Schostakowitsch ging um die Absperrung vor dem Eingang des Konservatoriums herum und setzte sich auf die oberste Stufe. »Ich habe mich die ganze Zeit darum gedrückt, das Thema anzusprechen, das unbedingt besprochen werden muss. Haben Sie irgendetwas gehört?«
    Nikolai blieb stehen. »Nein, nichts. Gar nichts.« Verzweiflung sickerte aus ihm heraus wie Tinte und bildete eine dunkle Pfütze um ihn herum – und in dem Moment begriff Schostakowitsch, wie es sein musste, Nikolai zu sein. Tag für Tag wachsende Hoffnungslosigkeit. Nikolai war dabei, zu ertrinken.
Das Schlimmste von allem
    Es war Nachmittag, und Elias befand sich nach einer unbefriedigenden Probe, in der Alexander ihn einen Dreckskerl genannt hatte und der alte Petrow vor Erschöpfungzusammengebrochen war, auf dem Nachhauseweg. Nikolai, zerstreuter denn je, hatte seinen Einsatz verpatzt und den Bogen fallen lassen. Und sie hatten erfahren, dass mehrere Musiker, die sich freiwillig für den Dienst an der Front gemeldet hatten, für tot erklärt worden waren.
    Der Tschaikowski sollte in weniger als zehn Tagen übertragen werden, und das Orchester – dezimiert, ausgelaugt – hätte zehnmal so viel Zeit gebraucht, um das Stück zu bewältigen. Niedergeschlagen stellte Elias sich vor, wie die Welt sie hören würde: als jämmerliche Versager statt als sowjetische Botschafter, als Gespött Leningrads statt als die letzte Bastion der Kultur. Mein Orchester ist wie ein verwesendes Maul, dachte er, als er über den Newski-Prospekt trottete. Voller fauler Zähne und klaffender Lücken.
    Als die Sirenen einsetzten, war kein Schutzraum in der Nähe. Zusammen mit anderen rannte er, so schnell er konnte, sich zwischendurch in Hauseingänge duckend, um zu dem Bunker in Gostiny Dwor zu kommen. Doch die Zeit reichte nicht, die Sirenen hatten zu spät angefangen zu heulen. Schon waren die Flugzeuge am Himmel zu sehen, Welle um Welle rasten sie von Süden heran, und er begann vor Angst zu schwitzen.
    Als er auf den Marktplatz stolperte, explodierte die Welt um ihn herum. Er warf sich unter einen Karren, der am Rand des Platzes stand. Für diejenigen, die nicht so schnell Schutz gefunden hatten, bestand keine Chance. Glas regnete in tödlichen Kaskaden herunter. Große Betonbrocken krachten von den Gebäuden, zerbrachen Knochen, zerschmetterten Schädel. Es schien, als wäre die Luft selbst aus fester Materie gemacht und zerberste nun in tausend Teile.
    Der Lärm war gewaltig: krachendes Mauerwerk, donnernde Flugzeuge, dazu das unheimliche Pfeifen fallender Bomben. Aber das Schlimmste von allem war das Geschrei. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gehört, under wusste, es würde ihn von nun an begleiten; noch Monate später würde er wach im Bett liegen, die Schreie im Ohr und das blutüberströmte Kopfsteinpflaster vor Augen. Ein seltsamer heißer Wind fuhr unter die Räder des Karrens. Er war in der Hölle.
    Es war schwer zu sagen, wie lange er dort lag, das Chaos ausblendete und auf den Tod wartete. So plötzlich, wie er begonnen hatte, war der Luftangriff vorüber. Die Flugzeuge entfernten sich, bis nur noch ein schwaches Brummen zu hören war, und das Knattern des Flakfeuers verstummte stotternd. Langsam wandte Elias den Kopf und spähte durch die verbogenen Speichen des Rads.
    Was er sah, war wie eine Szene aus einem Alptraum – obwohl nur die fiebrigste Phantasie eine so furchtbare Genauigkeit zustande gebracht hätte. Betonblöcke und verbogener Stahl waren über den Boden verstreut, Stoffmarkisen zerfetzt wie die Segel zerschellter Schiffe. Und zwischen den Trümmern Dutzende verstümmelte Körper. Vom Rumpf abgerissene Beine, von Armen abgerissene Hände, manche noch mit den Brotrationen in den blutigen Fingern. Das Schlimmste allerdings waren die abgetrennten Köpfe, die mit offenen Augen in den Himmel starrten.
    Er lag still in seinem kleinen Schutzraum, wo es nach Matsch und schimmeligem Kohl roch. Er mochte nicht hinauskriechen und sich alldem stellen, was ihn dort erwartete. Er betete zu irgendjemandem oder irgendetwas, an das er nie geglaubt hatte. Gib mir Kraft. Hilf mir.

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