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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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andere Zimmer und beobachtete, wie sie sich zum Putzen anschickte und die Ärmel aufkrempelte, unter denen noch immer kräftige Unterarme zum Vorschein kamen. Seit sie von der Bürgerwehr abgezogen worden war, arbeitete sie in der provisorischen Klinik im Astoria-Hotel. Wie furchterregend sie mit Schwesternhaube aussehen muss , dachte Nikolai. Genug, um die Beine in die Hand zu nehmen und zu fliehen, ob verwundet oder nicht.
    Dennoch bewunderte er sie. Er wusste, dass er selbst in Ohnmacht fallen würde, wenn er gezwungen wäre, auf die Krankenhausstationen zu gehen und das Grauen zu bezeugen, das Artilleriefeuer und Granaten anrichteten. »Du bist eine bewundernswerte Person«, sagte er. »Dagegenerscheint meine Betätigung, mit Pferdehaar über vier Metallsaiten zu kratzen, ziemlich bedeutungslos.«
    Tanja zuckte die Schultern. »Deine Arbeit ist auch wichtig. Die Moral hochhalten und dergleichen.«
    Das war eine Art Durchbruch; seit ihre jüngere Schwester nicht nur Musikerin geworden war, sondern auch noch einen Musiker geheiratet hatte, fiel es Tanja schwer, das Warum – den Nutzen – eines solchen Berufes zu begreifen. »Und außerdem«, fügte sie mit mehr Überzeugung hinzu, »bist du ja auch noch beim Brandschutz.«
    Nikolai selbst fand die Arbeit mit dem Rundfunkorchester wesentlich aufreibender als den Kampf gegen Feuer. Wenn er am Ende des Tages aus dem Rundfunkgebäude wankte, dröhnten seine Ohren von Alexanders Flüchen und Elias’ Rügen, die in kontrapunktischem, disharmonischem Widerspruch zu Tschaikowskis hehren Akkorden standen. Mehr denn je sehnte er sich schmerzlich nach den Tagen vor der Belagerung zurück, jenen ganz normalen Zeiten, als er das Konservatorium in aller Ruhe und Zufriedenheit verlassen konnte und sich darauf freute, Sonja zu sehen. Nun lief er, anstatt nach Hause zu gehen, eilig los, um Tanja in der Brotschlange abzulösen, damit sie ihre offizielle Arbeit antreten konnte, nur von Tee und ein bisschen verfestigtem Zucker gestärkt, der nach der Lagerhauskatastrophe verteilt worden war.
    Er fürchtete die haarsträubenden Geschichten, die sie erzählte, wenn sie – manchmal erst ein, zwei Minuten vor der Sperrstunde um zweiundzwanzig Uhr – nach Hause kam. Von Granaten verstümmelte Kinder. Schwangere Frauen auf Tragen, deren Bäuche aufgerissen waren, sodass man die toten Föten sah. Blutende Männer, die oft zu zweit kamen, weil sie sich gegenseitig als Krücken benutzten. Tanja beschrieb all dies nüchtern und sachlich, während sie ihre kleine Ration trocken Brot kaute. Es gab wenig, was sie vom Essen abhielt oder zum Weinen brachte, während Nikolai beim Zuhören unablässig dieTränen kamen. Meistens lehnte er sich mit einem mentholgetränkten Taschentuch über dem Gesicht auf seinem Stuhl zurück und schützte vom ewigen Einatmen des Aschestaubs verstopfte Nebenhöhlen vor.
    Am Tag nach der Bombardierung des Geschäftsviertels Gostiny war Tanja noch redseliger als sonst. »Die Leute sind zu Hunderten davon überrascht worden, weißt du. Die Warnung kam zu spät.«
    Ihr Gesicht sah durch das Taschentuch verschwommen aus. Konnte er sie dieses eine Mal bitten, ihre blutrünstigen Geschichten für sich zu behalten?
    »Du kannst dir das Ausmaß der Verletzungen nicht vorstellen.« Tanja schlürfte ihren Tee. »Ein Mann wurde ohne Nase, Augen und Mund eingeliefert, nichts als klaffende Löcher im Gesicht.«
    Nikolai holte scharf Luft, sodass seine Nase und sein Mund sich mit Taschentuchstoff füllten. Hustend richtete er sich auf. »Unser Dirigent hat das anscheinend miterlebt. Aber er wollte heute bei der Probe nicht davon reden. Er sah furchtbar aus, als stünde er noch unter Schock.« Er legte sich das Taschentuch wieder übers Gesicht, lehnte sich zurück und versuchte, Tanjas Stimme so weit wie möglich auszublenden.
    Dann drangen aus weiter Ferne ein paar Wörter in sein Bewusstsein. »Tänzerin. Wunderschön. Ruiniert.«
    »Was?« Er kam viel zu schnell hoch. Eine Sekunde lang sah er drei oder vier Tanjas. »Was hast du gesagt?«
    »Es wurde auch eine Tänzerin eingeliefert. Granatsplitter im ganzen Bein. Ich habe heute Abend mit ihr gesprochen – sie war vor dem Krieg beim Kirow.« Tanjas Stimme bebte, so wichtig fühlte sie sich: Nikolai war nicht der Einzige, der sich mit der Kulturelite tummelte!
    »Wie sah sie aus? Schwarzes Haar, schwarze Augen? Ein spitzes Kinn?« Bitte , dachte er verzweifelt , bitte sag nein.
    »Genau. Wie hieß sie noch gleich? Sie hat

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