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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Daumennagel eine Schote auf und harkte Schostakowitsch die limettengrünen Erbsen in den Mund. Schostakowitsch schob ihr weiche Erdbeeren durch die geschürzten Lippen, dann die kleineren, festeren Klubniki und schließlich ein fleischiges Himbeermus, bis Tatjana der rote süße Saft übers Kinn lief. Sie zogen riesengroße Rettiche aus dem weichen Boden und trugen sie, eine Dreckspur hinterlassend, in die Küche; ihre beißende Schärfe milderten sie mit Salz oder Butter. Es gab Gurken, so dick wie das Handgelenk eines Arbeiters und in Honig eingelegt – »Bauernessen«, sagte Tatjana und biss hungrig hinein.
    Was für einen Überfluss an Lebensmitteln wir damals hatten! Schostakowitsch, der inzwischen Partituren schrieb und hinter den Klaviernoten das volle Orchester hörte, staunte, als er sich daran erinnerte. Dieselben Datschen warenjetzt verwaist, die Gärten verwüstet, die Beete mitsamt allem, was dort angepflanzt worden war, verbrannt, ihre Besitzer in der steinernen Stadt eingeschlossen.
    »Du liebst mich am meisten von allen.« So redete Tatjana, wenn sie am aggressivsten und unsichersten war, ihre Stimme verfolgte ihn durch die Jahre. »Wenn es nicht so wäre, warum hast du mir dann das Klaviertrio gewidmet?« In Leningrad hatte sie Abend für Abend im Swetjaja lenta gesessen, den Blick auf ihn geheftet, während er seine verdeckten Proben abhielt. Er hatte nämlich herausgefunden, dass er seinen Job als Stummfilmbegleiter dazu nutzen konnte, seine eigenen Kompositionen zu üben; einmal hatte er den Geschäftsführer des Kinos sogar überredet, zwei seiner Kommilitonen, einen Geiger und einen Cellisten, dazuzuholen, damit er einen Probedurchlauf mit seinem Trio durchführen konnte.
    Das Werk war nicht sonderlich gut angekommen, die einsätzige Form wirkte undifferenziert, und die Themen klangen bereits in der Anfangspassage zu deutlich an. Als er nun auf die Skizzen für das Scherzo seiner Sinfonie starrte, fiel ihm auf, dass das Trio ein Vorläufer davon war. Der resolute Anfang war seine Art, mit neuen Situationen umzugehen – widerständig, angespannt, wachsam –, und mit dem melodischen zweiten Thema ergab er sich: der Sonne, seiner Genesung, Tatjana und der Liebe.
    Er versuchte das ferne Geschützfeuer zu ignorieren, und spürte, wie der gleiche alte Zauber in ihm ansprang, ein schmerzliches, beinahe sexuelles Verlangen. Es war eine Synthese aus Klang und Gefühl, eingefangen in der Erinnerung an den Schlüssel: jenen großen, theatralisch aussehenden Schlüssel, den Tatjanas vollbusige Tante ihm in die Hand gedrückt hatte. Er konnte sie zugleich einschließen und die Welt aussperren – so wie es an dem ersten Abend geschehen war, als er ihn im Schloss herumgedreht und es im selben Moment gedonnert hatte, Auftakt eines gewaltigen Sommergewitters.
    Die Holzdatscha hatte in dem heftigen warmen Wind geächzt. Tatjana lag mit lebhaften Augen bäuchlings auf dem Bett. Ihre weiße Baumwollbluse war ihr von der Schulter gerutscht, und Schostakowitsch konnte eine kleine nackte Brust sehen, in einer dunklen Brustwarze gipfelnd. Er hatte das Fenster zugemacht und ihr die Bluse über den Kopf gezogen, um ihre Brüste in seinen Händen zu wiegen. Er mochte die Kombination aus Gewicht und Gewichtslosigkeit, dass sie schwer und leicht zugleich waren wie runde reife Aprikosen.
    Mit nackten Oberkörpern lagen sie eng aneinandergeschmiegt da und lauschten, während das Gewitter über ihr Haus hinwegzog. Die Bäume draußen waren wilde schwarze Gestalten, die wie in einem Derwischtanz die Köpfe neigten und wieder emporschnellen ließen. Einmal sah Schostakowitsch eine Apfelkiste mit der Unterseite nach oben durch die Luft fliegen, wie einen Fisch.
    Die paar Stunden davor waren ruhig gewesen: berauschend, schlaftrunken, voller Bienengesumm. »Wer hätte das vorausgesehen?« Tatjanas schmaler Brustkorb hob sich vor Erstaunen. Dabei hatte das Gewitter sich den ganzen Nachmittag über angebahnt, wenn auch unsichtbar hinter den Hügeln. »Die Wildheit kam ja aus dem Nichts«, sagte Tatjana, deren Stimmungen nicht anders waren – beim geringsten Vorwurf flossen Tränen, ein Streicheln genügte, um ihr Lächeln wieder hervorzuzaubern.
    Der Schlüssel im Schloss, die gespannte Erwartung, das Rattern der Fensterscheiben, die schwankende Datscha: Zwanzig Jahre später verschmolz all dies in Schostakowitschs Kopf. Die Alarmsirenen schraubten sich zu ihrem üblichen Geheul hoch, und er ging zur Tür. »Nina!«, rief er

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