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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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schäumte unter ihrem Hut hervor. Der Häuserblock, in dem sie mit ihrer Cousine, deren Mann und Schwiegervater wohnte (seit so vielen Jahren ihr Zuhause!), war von einer Bombe der Luftwaffe getroffen worden, und eine ganze Wand war weg.
    »Auch noch die vordere«, betonte sie, als wäre das schlimmer als das Fehlen jeder anderen Wand. Und vielleicht stimmte das auch, denn die Straße, selbst in normalen Zeiten eine Hauptverkehrsader, wurde nun als Militärroute genutzt, sodass die Wohnung der Katsubas sich den Blicken ganzer Bataillone darbot. »Die Deutschen haben unser Leben hingehängt wie schmutzige Wäsche. Jeder kann sehen, wenn das Geschirr nicht gespült wurde und Grigori –« Sie senkte die Stimme. »Wenn Grigori wieder direkt aus der Konservendose isst.«
    Nikolai staunte. Es war schwer zu glauben, dass Tanja erst einen Monat zuvor auf Stroh geschlafen und sich vor den Augen anderer Frauen im Fluss gewaschen hatte.
    »Ja, der Löffel steckte noch in der Dose«, sagte sie, weil sie seinen Gesichtsausdruck für Empörung hielt, »sodass alle Welt es sehen konnte. Nachdem Anna siebzehn Jahre lang versucht hat, ihm das abzugewöhnen. ›Es gibt so etwas wie Teller‹, sagt sie – aber sobald wir weg sind und um Brot anstehen: Löffel her, rein in die Dose. Genauso gut könnte man einem Schwein beizubringen versuchen, Apfelsinen zu zählen.«
    In der Hoffnung, sich den Rest der Geschichte zu ersparen,näherte Nikolai sich langsam der Tür. Doch wortlose Zeichen waren für Tanja in außergewöhnlichen Momenten unsichtbar – und was war außergewöhnlicher, als nach Hause zu kommen und die eigene Wohnung ohne Vorderwand und einen Teil der Möbel auf der Straße vorzufinden?
    »Grigoris Lieblingssessel stand gerade noch so da. Um ein Haar hätten wir ihn verloren. Und Grigoris Vater – was glaubst du, wo der war?«
    Nikolai hatte keine Ahnung, aber er wusste, dass er erst gehen durfte, wenn er sich die Antwort angehört hatte.
    »Er war« – Tanja senkte theatralisch die Stimme – »auf der Toilette !«
    Nikolai unterdrückte ein Lächeln. »Der Arme.« Er kannte Grigoris Vater ein bisschen, hatte ein paarmal mit ihm Schach gespielt, während der Rest der Familie sich beim Kartenspielen zankte. »Geht es ihm gut?«
    »Gut?« Tanja schürzte die Lippen. »Ich denke schon, wenn du es als ›gut‹ bezeichnest, von der ganzen Nachbarschaft mit heruntergelassener Hose und am Hintern hängenden Stücken Putz angegafft zu werden.«
    »Wenn er nicht auf der Toilette gewesen wäre«, sagte Nikolai, »wäre er vielleicht zusammen mit dem Esstisch auf die Straße gefallen. Eine solche Peinlichkeit ist ein kleiner Preis für ein gerettetes Leben.«
    »Ja, wir sollten Gott wohl für die kleinen Gnadengeschenke danken.« Seit Tanja den Namen des Herrn aussprechen durfte – dank des neu gefundenen Glaubens der Partei, dass Gebete in einer verzweifelten Lage helfen könnten –, sprudelte die Frömmigkeit aus ihr hervor wie Wasser aus einem Brunnen.
    »Grigoris Vater erscheint es sicher wie eine große Gnade.« Und eine Gnade war es auch, dachte Nikolai, dass nicht alle drei Katsubas bei ihm auf dem Boden schliefen oder lautstark Poker an seinem Tisch spielten. Andererseits entlastete es ihn auch ein wenig, dass dasSchicksal ihm Tanja zugespielt hatte; es war wie eine Art universelle Abrechnung. Ihre Anwesenheit machte die Situation besser und schlimmer zugleich. Sie behandelte die Trauer wie eine ansteckende Krankheit, die man aus den Ecken fegen und von den Flächen wischen musste – genauso hatte sie es neun Jahre zuvor gehandhabt. Auch damals war er ihr ebenso dankbar wie gram gewesen. Doch als sie den Großteil von Sonjas Sachen wegräumte, die staubigen Bücher in Kartons packte und die Puppen in einem Schrank verstaute, wurde es ihm zu viel.
    »Sonja hat alles mit Absicht so hinterlassen«, sagte er zornig, »und ich habe mich gehütet, etwas daran zu ändern. Sie kommt wieder !«
    »Natürlich kommt sie wieder!« Tanja errötete. »Und dann wird sie etwas brauchen, womit sie sich beschäftigen kann. Zum Beispiel damit, ihr Zimmer herzurichten.« Sie musterte die Stifte auf Sonjas Schreibtisch, die akkurat nach Farbe und Größe geordnet waren. »Wie ich sehe, hat sie die zwanghaften Angewohnheiten ihrer Mutter geerbt. Wenn sie zurückkommt, müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen.«
    Nikolai war so erleichtert, sie im Futur über Sonja reden zu hören, dass er seinen Ärger vergaß. Er folgte Tanja ins

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