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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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scharf. »Geh mit den Kindern in den Keller!«
    Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Noch bevor das Dröhnen der Flugzeuge an seine Ohren dringen konnte, stopfte er sich Watte hinein und nahm den Bleistift in die Hand. Mutwillig versetzte er sich erneut in diesüß duftenden Repinoer Tage zurück, das warme Gras, das Dösen und Erwachen. Denk an Repino. Denk an den Frieden.
    Dann, endlich, fand er einen Weg in das Scherzo. Mit der trällernden Melodie der Streicher glaubte man in einen frischen Morgen auf dem Land hinauszutreten. Dies war mit ein paar schleichenden theatralischen Cello-Staccato-Tönen unterlegt – ein wenig wie die Schritte einer Tante, die nicht stören will. Als nächstes die Oboe. Singend und in die Höhe fliegend, stellte sie Tatjanas Stimme von einst dar, bevor diese streitsüchtig und besitzergreifend geworden war. (Gedämpft hörte er das Getöse der Flugzeuge; als er aufblickte, sah er das Porträt seiner Großeltern von der Wand rutschen.)
    Der Sturm? Das würde leichter sein. Der erste Satz hatte die Richtung gewiesen, mit seinem beklommenen cis-Moll und dem wiederkehrenden Chaos. Für den heftigen Wind, der gegen Scheunen krachte und Hecken flach drückte, würde er Blech- und Holzbläser nehmen. Und ein hämmerndes Xylophon würde, langsam und unvermeidlich, zum ursprünglichen b-Moll zurückfinden. (Das Licht über ihm flackerte und wurde dunkler, das Zimmer bebte, Bücher fielen aus den Regalen.)
    Dann, in einem einzigen Augenblick, sah er das Ende der Sinfonie vor sich. Als das Gebäude um ihn herum rumpelte und sich ein großer Riss in der Wand auftat, warf er sich unter den Flügel. Aber er spürte keine Angst – nur Erleichterung. Der eine flüchtige Blick hatte gereicht.
    »Alles ist gelöst.« Er hielt sich an den zitternden Beinen des Flügels fest. »Irgendwann kommt alles zu einem Ende.« Seine Ohren waren noch von der Watte verschlossen; was er sagte, klang selbst in seinem Kopf gedämpft. Er zog die Pfropfen heraus – RUMS! Ein ohrenbetäubender Knall ... hatte eine Bombe der Luftwaffe ihn erwischt? Aber es war nur der Deckel des Flügels, der mit voller Wucht heruntergekracht war und jetzt die Saiten kreischenließ wie die Seehexen. Schostakowitsch verzog das Gesicht.
    Nina und die Kinder waren aus dem Keller wieder nach oben gekommen und begutachteten die Schäden. Spiegel und Teller lagen in Scherben auf dem Boden, die Fensterscheiben waren trotz Klebeband gesprungen. Schostakowitsch saß inmitten des Schutts und erklärte, warum er oben geblieben war. »Es war der Durchbruch für das Scherzo. Ich hätte es sonst verloren.«
    Nina begann alles zusammenzufegen. »Und wir hätten dich verlieren können.« Ihre Reaktion auf Gefahr war immer dieselbe: Humor als Schutz gegen Angst, Pragmatismus als Barriere gegen Gefühle.
    Er beobachtete sie, als sie sich über einen zerbrochenen Geranientopf beugte, und wurde von plötzlichem Verlangen gepackt. Die Arbeit hatte oft diese Wirkung auf ihn, sie weckte eine immense Lust in ihm, nahm ihm aber zugleich jede Energie, die Initiative zu ergreifen. Außerdem war er in Gedanken noch ganz bei Tatjana: ihren schrägen Augen, ihren jähen Temperamentsausbrüchen und ebenso jähen Kapitulationen; ihren kleinen Seufzern, wenn sie weinte, der Art, wie sie ihn biss, wenn sie erregt war.
    »Ich liebe dich, Nina«, sagte er. »Ich liebe dich wirklich.«
    Später am Abend stapfte er mit Nikolai um das Gebäude des Konservatoriums und untersuchte die Fenster im Erdgeschoss auf kaputte Scheiben. »Was für ein Tag!« Er fühlte sich so beschwingt wie erschöpft. »So unerwartet wie ... wie der zweite Satz einer Sinfonie.«
    »Sie sind also schon beim zweiten Satz?« Nikolai bückte sich nach einem Eimer Sand, der halb hinter einer Stacheldrahtbarrikade verborgen war. »Beeindruckend, in einer Woche, in der zweihundert Granaten pro Tag auf uns herabgeregnet sind.« Er stolperte mit dem Eimer in der Hand und fiel beinahe hin.
    »Alles in Ordnung?« Schostakowitsch stützte ihn.
    »Nur müde«, sagte Nikolai und versuchte zu lächeln. Doch seine Augen sahen aus, als hätte er zwei schwarze Löcher im Gesicht.
    Schostakowitsch hatte auf einmal ein furchtbar schlechtes Gewissen. In den vergangenen zwei Monaten hatte sein Freund sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Geistig so wach wie immer, imstande, jedes Thema von Brotschlangen bis Brahms zu diskutieren, war doch irgendwo in ihm eine unausfüllbare Leere entstanden.
    »Ich bin ein Idiot.

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