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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Der Mann war nur noch Haut und Knochen, er litt an Pleuritis und hatte fast alle seine Lebensmittelrationen seiner Frau gegeben. Doch der scharfe Stich seines schlechten Gewissens ließ ihn Katerina anfahren. »Es gibt drei Wörter, die ich nicht mehr dulden werde. ›Können wir nicht‹ gehört nicht in den aktiven Wortschatz des Rundfunkorchesters.«
    Auf Protest gefasst, wartete er ab. Würde eines der ursprünglichen Mitglieder aufbegehren, weil er einen zusammengewürfelten Haufen Amateure als Rundfunkorchesterzu bezeichnen wagte? Doch niemand sagte ein Wort, selbst Katerina schien sich geschlagen zu geben. »Und wer zu spät kommt«, fuhr Elias fort, »egal, aus welchem Grund, der verliert seine Brotration für den Tag.«
    Unterdrücktes Keuchen war zu hören. Petrows Augen tränten, Katerina öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.
    »Und jetzt von vorn«, befahl Elias. Schon dieser kurze Austausch hatte ihn ermüdet. Durch die Musik hindurch hörte er rasselnden Atem, tief und rau, dasselbe Geräusch wie am Morgen, als er versucht hatte, seiner Mutter Kohlwasser einzuflößen. Die Musiker ackerten weiter, während er die Arme sinken ließ und mit blinden Augen auf die Noten starrte. Erst jetzt dämmerte ihm die Wahrheit. Seine Mutter lag im Sterben.
Die Fehlenden
    Den wenigen Briefen nach zu urteilen, die über die feindlichen Linien und an den Zensoren vorbei in Nikolais Hände gelangten, war Schostakowitsch zwar in Sicherheit, aber nicht glücklich. Obwohl man ihm dank eines außergewöhnlich hilfsbereiten Genossen namens Semljatschko eine größere Wohnung gegeben hatte, vier Zimmer mit Bad, fühlte er sich beengt. Zuletzt war seine ganze erweiterte Familie aus Leningrad evakuiert worden, doch er hatte festgestellt, dass sie alle unfähig waren, von etwas anderem als Lebensmittelrationen zu reden. Überdies war Kuibyschew entsetzlich provinziell: Es gab niemanden, mit dem er über seine Arbeit sprechen konnte. »Ich bin von Kleinkindern, Bourgeoisie und Balletttänzerinnen umgeben«, schrieb er. »Und die Tänzerinnen sind nicht mal hübsch.« Wenn Nikolai das verdrießliche Tintengekritzel so betrachtete, konnte er sich Schostakowitsch genau vorstellen: wie er die Stirn runzelte und seinen Bleistift hinter das Ohr steckte, während die diversenFrauen um ihn herum (Mutter, Schwester, Schwiegermutter, Schwägerin, Nichte, Tochter, Ehefrau) über Brot, Butter, Kartoffeln, Konfekt und Kaffee plapperten.
    Obwohl Nikolai sich danach sehnte, ihn wiederzusehen, war er doch froh, dass Schostakowitsch von der schlimmen Talfahrt in den Winter und dessen grauenhaften Folgen verschont geblieben war. Leningrad war nicht mehr die Stadt, die ihre exilierten Einwohner gekannt hatten. Sie war bis auf schlammige Fundamente zerrieben worden, und die Rückkehr von Licht und Wärme hatte wenig dazu beigetragen, ihr wieder Leben einzuhauchen.
    Schostakowitsch hatte auch Nikolais Kummer nicht vergessen. »Wir beten für Sie«, schrieb er am Ende jedes Briefes. »Geben Sie die Hoffnung nicht auf.« Doch eben das wurde immer schwerer. Jeder Tag, der verstrich, führte ihn einen Schritt weiter von Sonja weg, und die Ungeheuerlichkeit ihres Verlustes wurde immer fassbarer. Nur die Arbeit brachte Erleichterung. Nach der täglichen Probe half Nikolai Elias beim Abschreiben der Partitur für all die Musiker, die sofort auf ihre militärischen Posten zurückkehren mussten. Es war eine langweilige, monotone Aufgabe, doch solange er sich ihr widmete, spürte er den Schmerz in seinem Herzen nicht.
    Elias war noch schweigsamer geworden als sonst. Vom stundenlangen Schreiben hatte er Hornhaut an den Fingern bekommen, und das Weiß seiner Augen war von unzähligen roten spinnennetzartigen Linien durchzogen. Irgendetwas schien ihm Sorgen zu bereiten – aber vielleicht war es einfach der Druck, eine Sinfonie dirigieren zu müssen, deren Ruf mittlerweile gewaltige Ausmaße angenommen hatte.
    »In Kuibyschew uraufgeführt, in Amerika bejubelt, in die ganze Welt übertragen. Schon jetzt ein ungeheurer Erfolg!«, sagte er. Doch es klang eher ängstlich als erfreut.
    »Und für einen Stalinpreis nominiert!«, fügte Nikolai hinzu, um Elias’ Selbstvertrauen zu stärken. »Sie könnensich vorstellen, wie sehr Schostakowitsch sich darüber gefreut hat.«
    »Ja, das ist eine Auszeichnung, auf die er womöglich gern verzichtet hätte. Aber haben Sie eine Ahnung, wie er ... über das Werk selbst denkt?« Elias’ verdruckstes, scheues Verhalten

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