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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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voller Angst und Verlangen wach gelegen. Noch nie zuvor hatte sich ihm eine solche Chance geboten – und noch nie zuvor hatte so viel für ihn auf dem Spiel gestanden. Einen Augenblick lang war er beinahe froh, dass Schostakowitsch gezwungen worden war, die Stadt zu verlassen. Bei der Vorstellung, der Komponist würde den Proben beiwohnen und sich mit größter Aufmerksamkeit Elias’ Interpretation seiner Siebenten Sinfonie anhören, wurde Elias ganz übel.
    »Zumindest Dmitri wird glücklich sein«, sagte Nikolai. »Es ist nur recht und billig, dass die Leningrader Sinfonie in Leningrad aufgeführt wird. Wenn die Belagerung nicht wäre, hätte natürlich auch die Uraufführung hier stattgefunden, mit –«
    »Mrawinski.« Lächelnd versuchte Elias die alte Eifersucht zu unterdrücken. »Mit Mrawinski und den hochangesehenen Philharmonikern.«
    »Aber nun ist eben alles anders! Sie werden es sehr gut machen.« Nikolai zog einen schimmeligen Läufer voneinem Stapel rostiger Notenständer herunter. »Wissen Sie, wie viele von unseren Musikern noch ... da sind?«
    Elias schluckte schwer. Auf der Liste der Musiker, die man ihm gezeigt hatte, waren fünfundzwanzig Namen schwarz ausgestrichen: offiziell tot. Fünfzehn waren rot umrandet, nur von ihnen wusste man mit Sicherheit, dass sie lebten. »Ich bin nicht ganz sicher. Ich habe bei der Stabsstelle des Militärs darum gebeten, alle zu melden, die in der Lage sind, ein Instrument zu spielen.«
    »Männer von der Front? Immerhin werden sie in Märschen geübt sein.« Trotz seines kleinen Scherzes sah Nikolai ausgesprochen skeptisch aus.
    »Wir brauchen zehn Hörner. Sechs Posaunen oder mehr, sechs Trompeten.« Elias breitete die Hände aus. »Selbst wenn wir so viele auftreiben könnten – werden sie stark genug sein zu spielen?«
    Es war eiskalt im Raum, obwohl schwache Sonnenstrahlen durch die schmutzigen Fensterscheiben krochen. »Wir sollten gehen.« Nikolai fröstelte. »In den kommenden Wochen werden wir noch mehr als genug Zeit hier verbringen.«
    »Ja, und ich muss jetzt im Smolnypalast vorsprechen«, sagte Elias, »und die Generäle bitten, uns ein paar von ihren Trompetern auszuleihen.«
    Auf der Treppe vor dem Rundfunkgebäude blieben sie stehen und schauten auf die Straße hinunter. Glauben Sie, wir kaufen Menschenfleisch auf dem Schwarzmarkt? Elias hörte Olga Schaprans Stimme in seinem Kopf. Glauben Sie, wir sind Kannibalen? Jetzt, da es Frühling geworden war, hatten ihre Worte eine neue, grausige Bedeutung bekommen. Schlimmer noch als der Anblick der den Bomben oder dem Hunger zum Opfer gefallenen Menschen war, begreifen zu müssen, was hinterher mit ihnen geschehen war. Denn als die schmutzige Schneedecke langsam weggezogen wurde, kamen zerstückelte Leichen darunter zum Vorschein.
    Abgetrennte Beine, aus denen große Stücke Fleisch herausgeschnitten worden waren, Frauenkörper mit säuberlich abgesäbelten Brüsten. Die Überreste von Rümpfen, Rücken und Bauch, filetiert wie die Flanken eines Rinds. Fleisch, von den Toten gestohlen, um die Lebenden zu ernähren: So entsetzlich weit waren manche Leningrader gegangen, um am Leben zu bleiben.
    Als Elias das Schlachtfeld betrachtete, stieg maßlose Verzweiflung in ihm auf. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Was für einen Sinn hatte die Kunst in Anbetracht dessen? War Schostakowitschs Musik nichts als eine schöne Maske, hinter der man die Brutalität der menschlichen Natur verbergen konnte?
    »Das inspiriert einen nicht gerade, für Leningrad zu spielen, oder?« Nikolai sprach mit so trauriger Stimme, als blickte er direkt in Elias’ gespaltenes Herz. »Aber was bleibt uns anderes übrig?«
Eine neue Front
    Elias blinzelte und schwankte. Die Aprilsonne, die er so viele Monate herbeigesehnt, sich erträumt hatte, war kein Freund. Sie half nicht gegen sein Frösteln, und sie schmerzte seine schwachen brennenden Augen.
    Er rieb sich das Gesicht. Langsam zog sich das gleißende Licht vom Fenster zurück, und er sah fünfzig oder mehr Musiker mit ausdruckslosen Mienen zu ihm aufblicken. Ein hohlwangiger Mann in militärischer Uniform, die Posaune wie ein Gewehr geschultert, stand auf. Sagte er etwas? In Elias’ Ohren war ein solches Dröhnen, dass er nicht das Geringste hören konnte.
    Plötzlich erhob sich aus dem lauten Rauschen eine vertraute Stimme. Wie kann ich Ihnen das jemals vergelten? Ganz kurz sah Elias ihn so deutlich vor sich, als wäre er bei ihnen im Raum – Schostakowitsch, mit

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