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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Problem.« Er warf einen Blick auf den dicken Stapel Papier. »Bisher haben wir keine Partitur, von der Sie spielen könnten. K-k-k–«
    Rasch mischte sich Nikolai ein. »Wäre es eventuell denkbar, dass Sie uns auch hierbei helfen? Wie Sie sehen, haben wir mit dem Abschreiben alle Hände voll zu tun.«
    Nina lächelte. »Abschreiben kann ich wahrscheinlich besser als Klavier spielen. Und ich habe heute Nachmittag sowieso nichts mehr vor.« Sie nahm ihren Hut ab. Ihr einst glänzendes Haar sah stumpf und spröde aus, und sie hatte den gleichen grünlichen Teint wie alle unterernährten Leningrader. Dennoch begegnete sie dem Leben mit der gewohnten Selbstbeherrschung.
    In der folgenden Stunde war der ramponierte Raum von einer Atmosphäre eifriger Emsigkeit erfüllt, die Nikolai fast ein Gefühl von Normalität gab. Nur als eine Sirene heulte, fiel ihm ein, dass die Situation weit von jeder Normalität entfernt war und es ihm selbst alles andere als gut ging. Binnen eines Jahres hatte der Krieg seine stabile Welt in Trümmer gelegt und ihre Bewohner in alle Richtungen verstreut wie Würfel auf einem Spieltisch. Schostakowitsch: gen Süden in eine Stadt an der Wolga verfrachtet, wo seine rastlose Seele zu wenig Raum hatte und er sich wegen jeder einzelnen Aufführung seiner Sinfonie beunruhigte. »Meine Nerven spielen verrückt«, hatte er geschrieben. »Zum Glück haben wir ein abschließbares Badezimmer, sodass meine Tränen ungehemmt fließen können.« Und Sollertinski: nach Nowosibirsk verbannt, wo Tag und Nacht die sibirischen Winde heulten. Was fing er dort mit seinem quecksilbrigen Witz, seinen Shakespeare-Kenntnissen, seiner Beherrschung von Sanskrit, Alt-Persisch und Portugiesisch an?
    Nikolai fiel der Stift aus der Hand. Wir waren ein Triumvirat, haben zusammengearbeitet. Wir standen für Intellekt, Instinkt und Integrität. Seine Sehnsucht nach dem gewohnten Leben, nach dem Ende der Belagerung war so stark, dass er glaubte, daran ersticken zu müssen. Er wandte sich zu seinen gegenwärtigen Gefährten um, die sich über ihre Arbeit beugten. Die dünne, versehrte, immer noch schöne Nina Bronnikowa, der ausgemergelte, dickköpfige Karl Eliasberg: Sie waren nicht seine Freunde gewesen, bevor die Deutschen in die Stadt einmarschierten. Wo waren seine wirklichen Freunde?
    Und dann geschah es. Sein Schutzpanzer bröckelte, und das Bild jenes kleinen Gesichts, das er durch schiere Willenskraft die ganze Zeit von sich ferngehalten hatte, schoss ihm in den Kopf. Lieblich wie ein Gebirgsbach, unnachgiebig wie ein Felsengrund. Ernst, aber unendlich liebevoll; fraulich, noch ohne es zu wissen, kindlich,ohne damit zu spielen; seine dunkeläugige, rabenschwarzhaarige, pausbackige, dünnbeinige Sonja! So groß der Verlust seiner Freunde auch sein mochte – viel größer war der, den er an jenem Tag im vergangenen Sommer selbst herbeigeführt hatte. Er hatte den Menschen weggegeben, der ihm am wertvollsten war, hatte ihn einer unbekannten Frau anvertraut und war gegangen, bevor der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Sonja, Sonja. Er konnte sich nicht vorstellen, wo sie war, wagte es auch gar nicht mehr, weil ihm beim leisesten Gedanken daran der Schweiß ausbrach, es in seinen Gedärmen zu brodeln begann und er sich so sehr dafür hasste, sie fortgeschickt zu haben, dass die Heftigkeit dieses Gefühls ihn selbst erschreckte.
    Er schob den Stapel Papier beiseite und legte den Kopf auf den Tisch. Die Tränen strömten, doch er gab keinen Ton von sich. Es dauerte einige Minuten, bis er die anderen rufen hörte und eine unbeholfene Hand auf seiner Schulter spürte.
    »Nikolai? Was ist los?« Elias klang besorgter denn je.
    Er hob den Kopf, seine Nase lief, seine Haare waren klitschnass. »Meine Augen. Sie sind so müde. Tränen oft ohne Grund.«
    Elias zögerte einen Moment. »Meine auch. Verdammt unangenehm, nicht wahr?« Er stolperte zum Fenster, um es zu öffnen, murmelte etwas von Vitaminmangel, Skorbut und dem Effekt von Unterernährung auf die Netzhaut. »Frische Luft«, sagte er aufmunternd. »Frische Luft wird Ihnen gut tun.«
    Nina streckte eine Hand aus und legte sie auf seine. Nach einer Weile reichte sie ihm einen Taschentuchfetzen.
    Noch nie war er für die Zurückhaltung anderer so dankbar gewesen. Er wischte sich Nase und Augen trocken und nahm den Stift wieder auf. Doch auch während er wie ein Besessener weiterkopierte und sich auf Schostakowitschs manisch springende Oktaven konzentrierte, rief sein Herzdie

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