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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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hinter den Brillengläsern leuchtenden Augen, in den Händen einStück Papier mit dem Schluss der Siebenten Sinfonie. Erleichterung strömte Elias durch die Adern, bis in die Finger hinein, und fühlte sich fast wie Wärme an. Er hatte eine Aufgabe.
    »Es tut mir leid, wenn ich manchmal abwesend wirke.« Er sprach nicht nur zu dem stehenden Posaunisten, sondern zu allen im Saal. »Ich habe in letzter Zeit Probleme mit dem Gehör, aber auch mit dem Kreislauf, der Verdauung, dem Nervensystem und mit meiner allgemeinen seelischen Verfassung – so wie vielleicht die meisten von Ihnen.« Um das Eis zu brechen, war das nicht eben viel, doch die Gesichter entspannten sich ein wenig, und bei einigen bog sich der Mund nach oben – was in besseren Tagen ein Lächeln gewesen wäre.
    »Entschuldigen Sie, Herr Eliasberg«, sagte der Posaunist mit einer Förmlichkeit, wie er sie sonst wohl älteren Offizieren gegenüber an den Tag legte, »aber ich hatte gefragt, wo wir denn beginnen sollen.«
    Elias’ Hände krampften sich um die Partitur. Sie war dick wie ein Stiernacken, und es schien unmöglich, sie zu durchdringen. Doch als die Panik ihn gerade zu überwältigen drohte, meldete sich Schostakowitsch wieder zu Wort. So sehe ich den Krieg! Erst jetzt nahm Elias den Zweifel unterhalb der trotzigen Haltung des Komponisten wahr, und seltsamerweise gab ihm das mehr Sicherheit.
    »Ganz vorn«, sagte er und atmete aus. »Was wäre für den Anfang geeigneter?« Er gab das Zeichen für ein A, doch obwohl der Oboist (auch er ein Elias unbekannter Soldat) die Lippen spitzte und blies, war nichts zu hören. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, blies erneut und erzeugte endlich einen Ton, so dünn wie der Ruf eines Vogels aus den Tiefen eines Waldes.
    Das also ist die Waffe, die mir zur Verfügung steht! Elias beobachtete das behelfsmäßige Orchester beim Stimmen. Da war der alte Petrow, der sich irgendwie erholt und den Winter überlebt hatte, obwohl er nur noch Haut und Knochenwar. Und Nikolai, der seinen Bogen hob, als sei er aus Beton – aber so viele andere Musiker waren tot! Die Neuen, die Elias noch nicht kannte, handhabten ihre Instrumente mit den ruckartigen mechanischen Bewegungen von Aufziehpuppen. Innerhalb von drei Monaten musste er mit diesem Saal voller Skelette eine inspirierte Fassung der größten je von Schostakowitsch komponierten Sinfonie zustande bringen! Wäre er nicht so müde gewesen, dann hätte er über die Absurdität des Ganzen womöglich gelacht.
    Stimmen, einspielen: die Abläufe, die einst endlos gewirkt hatten, waren in weniger als einer Minute zu Ende. Dann war es wieder still im Raum, während draußen, in weiter Ferne, das Geschützfeuer rastlos weitermurmelte, so vertraut und beständig wie der Hunger.
    Elias hob die Arme. Schmerz schoss ihm durch den Rücken, und seine Schultern bebten. »Freunde«, sagte er, obwohl er weniger als ein Viertel von ihnen kannte. »Freunde, ich weiß, dass Sie schwach sind und Hunger haben. Aber wir müssen uns zwingen zu arbeiten. Fangen wir an.«
    Er gab den Einsatz. Die Musiker regten sich, schienen bereit zu spielen – aber nichts geschah. Es schien, als wären sie wie ein einziger Körper paralysiert – ob nun aus Nervosität, Angst oder extremer Kraftlosigkeit. Es war wie bei Elias’ ersten Proben, als er so unerfahren und aufgeregt gewesen war, dass das Orchester nichts von dem getan hatte, was er wollte. Jetzt gab es allerdings kein höhnisches Gelächter, sondern nur ein verstörendes Schweigen. Die Erschöpfung schien sich im Raum auszudehnen.
    »Genossen!« Er dachte daran zurück, wie Schostakowitsch in die Tasten gegriffen und voller Energie den Beginn eines Werks gespielt hatte, dessen er sich noch gar nicht sicher gewesen war. »Genossen! Ich befehle Ihnen, Ihre Instrumente zu heben. Es ist Ihre Pflicht.«
    Die Musiker richteten sich auf, sahen ihn mit flatternden Blicken an. Erneut hob er die Arme. Über das Meer aus Köpfen hinweg fiel sein Blick auf Nikolai, der mit seiner knochigen linken Hand die Geige umfasst hielt. Erbittert, so wie jemand, der im Begriff ist, sich Hals über Kopf in eine Schlacht zu stürzen, sah er Elias an.
    Elias schaute weg, bevor seine Gefühle ihn schwächen konnten. »Fangen wir an.« Er senkte die Arme.
    Er hatte die ersten Takte der Sinfonie so oft gehört, hatte sie sich, im Bett liegend, fest in seinen Mantel gewickelt, im Geist immer wieder vorgespielt. Die Realität war vollkommen anders. Ein paar

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