Dirigent
erinnerte an eine Katze, die sich an einer Wand entlangschleicht.
»Nach allem, was ich so höre, ist er nicht gänzlich zufrieden.«
Elias legte den Stift aus der Hand. »Inwiefern denn nicht?«
»In seinen Briefen kann er ja nicht viel sagen, weil sie sonst womöglich abgefangen werden. Aber anscheinend ist er der Meinung, der vierte Satz habe darunter gelitten, dass er ihn an einem anderen Ort geschrieben hat. Und die zwei Monate Unterbrechung, während sie evakuiert und dann von Moskau nach Kuibyschew umgesiedelt worden seien, hätten auch nicht gerade geholfen.«
»Nun, Teile davon sind vielleicht eher wirkungsvoll als inspiriert«, räumte Elias ein. »Aber symphonische Finalsätze sind notorisch schwierig, besonders bei einem ersten Satz von so ungeheurer Kraft und Tragweite.« Er hielt einen Moment inne. »Nicht, dass es eine Rolle spielen würde – ob der Finalsatz geglückt oder misslungen ist, meine ich. So weit kommen wir vermutlich gar nicht.« Ein Ausdruck der Verzweiflung huschte über sein Gesicht.
»Wir werden so weit kommen!«, sagte Nikolai bemüht zuversichtlich. Aber es war schwer zu bestreiten, dass das Orchester enorm zu kämpfen hatte. »Vielleicht sollten wir doch noch mal nach einem Pianisten suchen? Eine Klavierbegleitung würde ungemein helfen, die schwächeren Gruppen zu unterstützen.«
»Zufälligerweise«, meldete sich eine Stimme hinter ihnen, »ist das genau der Grund, warum ich gekommen bin.« Im Türrahmen stand eine zierliche Frau; obwohl siein ihrem Mantel versank und das Haar unter ihren schäbigen Hut gesteckt hatte, war ihm etwas an ihrer Haltung und der Neigung des Kopfes vertraut, und Nikolai holte tief Luft.
»Nina Bronnikowa? Sind Sie es wirklich?« Er schob seinen Stuhl zurück, vergaß seinen schmerzenden Rücken und seinen Hunger, nachdem die Brotration für diesen Tag aus schimmeligem Mehl und Baumwollsamen bestanden hatte. Er wusste ja, dass sie den Winter überlebt hatte, doch ihr Anblick erfüllte ihn mit großer Erleichterung. Seine Freude zu verbergen war unmöglich; er ergriff ihre dünnen Hände und küsste sie mehrmals auf beide Wangen.
»Willkommen!« Elias stand wie ein unsicherer Gastgeber hinter ihnen. »Willkommen.« Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er Nikolais Beispiel folgen, doch dann schüttelte er Nina nur die Hand und stellte ihr einen wackeligen Stuhl hin. »Bitte, setzen Sie sich doch. Wie geht es Ihnen?«
»Nun ja, ich kann nicht mehr tanzen, könnte es selbst dann nicht mehr, wenn es ein Ballett gäbe.« Sie humpelte zu dem Stuhl. »Aber immerhin bin ich am Leben.«
»Vielleicht können die Ärzte des Kirow Ihnen helfen, sobald die Belagerung vorbei ist«, sagte Nikolai. »So erfahren, wie sie sind, wissen sie doch bestimmt, was zu tun ist.«
»Ich bin sicher«, sagte Elias, »dass Sie mit moderner Medizin, richtiger Ernährung und einer langen Ruhepause –«
»Ich fürchte, es wäre ein Wunder nötig, damit ich wieder tanzen könnte.« Nina lächelte müde. »Aber ich danke Ihnen beiden. Im Übrigen gibt es andere in diesem Krieg, die weit schlimmer dran sind als ich.« Als sie Nikolai ansah, wurden ihre Augen noch dunkler.
Bitte erwähne Sonja nicht! , dachte Nikolai verzweifelt. Ich kann nicht von ihr sprechen! Nicht heute!
Nina schien ihn zu verstehen. Sie nickte, eine kleineversteckte Botschaft des Mitgefühls, und wandte sich dann Elias zu, als wollte sie Nikolai Zeit geben, sich zu fangen. »Ich bin gekommen, weil Genosse Babuschkin mir sagte, Sie könnten vielleicht einen Pianisten gebrauchen.«
»Sie spielen K-K-Klavier?« Elias’ Gesicht leuchtete auf.
»Ich konnte es mal, ganz passabel sogar, nur bin ich jetzt ziemlich eingerostet. Aber vielleicht sind ja selbst unzulängliche Hände besser als keine.«
»Fast alle unsere Musiker sind unzulänglich! Ich frage mich, warum Babuschkin sich nicht schon früher mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat. Wir suchen seit Wochen nach einem Pianisten.«
»Er sagte, die Idee sei ihm jetzt erst gekommen. Sie hätten über das Kirow geredet, da sei mein Name gefallen, und er habe sich erinnert, dass ich Klavier spiele, weil mein früherer Lehrer ein alter Freund von ihm war – Sie wissen ja, wie die Leningrader Beziehungen funktionieren. Jedenfalls war er sehr zufrieden, diese Lösung gefunden zu haben.«
»So spät! Der Schwachkopf –« Elias unterbrach sich. »Ich meine, wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie uns helfen würden. Es gibt da nur ein
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