Dirigent
versprengte Akkorde, das ungenügende Rasseln einer Rührtrommel, ein klägliches Antippen von Saiten. Es war wie der Duft von Essen, das dann nach nichts schmeckt, oder wie eine Speise, die versprochen, aber nicht serviert wird. Er griff ins Leere.
Er klopfte auf sein Notenpult, und stockend hörten die Musiker auf zu spielen. Schon waren die Münder der Holz- und Blechbläser gerötet, ihre schorfigen Lippen blutig. Manche der Gesichter, die sich jetzt hoben, hatten den weißlich-grünen Teint der Toten. Dann rutschte unter Elias’ Blicken der erste Flötist von seinem Stuhl auf den Boden.
Der zweite Flötist kniete sich neben den kollabierten Mann und rief mit angstheller Stimme seinen Namen. »Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte er Elias.
»Bringen Sie ihn hinaus. Legen Sie ihn in den Flur. Decken Sie ihn mit einem Mantel zu.« War der Flötist tot oder lebendig? Elias wusste es nicht, und ihm fehlte die Kraft, es herauszufinden.
Drei Perkussionisten waren nötig, um den Mann hinauszuzerren. Die Störung schien ewig zu dauern; der Rest des Orchesters saß einfach da, viele hatten die Augen geschlossen. Sie waren in fadenscheinige Schals und abgetragene Mäntel gehüllt, trugen Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern, doch die meisten zitterten trotzdem.Elias blickte unverwandt auf das Blatt vor ihm. Die schwarzen Noten sahen wie schwere Granitblöcke aus.
Es war Zeit weiterzumachen. Er holte tief Luft. »Das ist nicht gut genug. Sie verhöhnen unseren großen Komponisten. Die Musik muss so barbarisch wie bravourös sein. Denken Sie daran, Sie schlagen den Feind zurück!«
Doch die Musiker vor ihm waren weder barbarisch noch bravourös, sie standen kurz vor dem Zusammenbruch, unfähig, auch nur einen Mückenschwarm zu bekämpfen, von einer Horde brutaler Angreifer ganz zu schweigen. Die Sinfonie marschierte nicht, sie kroch.
In den Takten vor dem Trompetensolo schloss er die Augen und hörte die schmetternden trotzigen Töne der Uraufführung. Durch die Entfernung gedämpft, von den Radiowellen flach gedrückt, doch durch das Wissen, dass Schostakowitsch im fernen Kuibyschew zuhörte, tausendfach verstärkt. Elias erhob sich auf die Zehenspitzen, gab mit einem Abwärtsschwung seines Arms den Einsatz für die Trompete – und öffnete die Augen, nur um den Trompeter mit gesenktem Kopf dasitzen zu sehen, sein Instrument auf den Knien. Die substanzlosen Geigenklänge zerfransten und verstummten dann ganz.
»Warum zum Teufel spielen Sie nicht?« Elias brüllte beinahe vor Groll und Versagensangst.
Der Trompeter antwortete, ohne den Kopf zu heben. »Es tut mir leid.« Er war kaum zu verstehen, doch seine Erschöpfung und Verzweiflung waren offensichtlich. »Ich kann das Solo nicht spielen. Meine Atemluft reicht dafür nicht.«
»Wenn Ihre Atemluft ausreicht, um zu sprechen, können Sie auch spielen.« Doch Elias war selbst ein wenig aus der Puste. Die Luft schien zu kalt zum Einatmen, und sobald sie in der Lunge war, ließ sie sich nur schwer wieder ausstoßen. »Sie müssen es versuchen. Schostakowitschs Musik wird nicht von Leuten gespielt, die aufgeben.«
Gehorsam hob der Trompeter sein Instrument und fing an. Als Elias seinen verzweifelten Gesichtsausdruck sah, fühlte er sich elend – und erst recht, als der Mann nach ein paar Takten auf seinem Stuhl zusammensackte. Dies ist deine Aufgabe , sagte er sich. Du bist nicht hier, um einzelne Menschen zu retten, sondern die ganze Stadt! Doch was als Selbstermunterung gedacht war, klang deprimierend nach Parteipropaganda.
Er ließ den Taktstock sinken. »Sie sind alle entlassen. Morgen treffen wir uns wieder hier.« Er hatte eine halbe Stunde gebraucht, um die Probe in Gang zu bringen, die dann weniger als fünfzehn Minuten gedauert hatte. »Verspäten Sie sich nicht«, fügte er hinzu.
Tag für Tag kehrte das Orchester in den kalten staubigen Raum zurück. »Von jetzt an«, verkündete Elias, »werden wir immer drei Stunden proben, von zehn bis eins.«
»Drei Stunden! Das ist unmöglich«, wandte Katerina Ginka ein. Ihre Wangen waren hohl, jede Spur von gesunder Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, doch die Kraft zu diskutieren hatte sie noch. »Wir schaffen es ja kaum, drei Minuten zu spielen, ohne bewusstlos zu werden – oder zu sterben.«
Elias errötete. Der Flötist, der zusammengebrochen war, lag mittlerweile im Militärkrankenhaus, und niemand wusste, ob er überleben würde. Es war nicht meine Schuld , verteidigt er sich im Stillen.
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