Dirigent
Aber aus Gnade mit Ihren Musikern begnüge ich mich mit pp . Es tut mir leid, wenn das schwer zu spielen ist, aber daran lässt sich nichts ändern. Hohes G, pianissimo, Ende der Debatte.«
Solche Distanziertheit, gepaart mit solcher Selbstsicherheit! Es war, als könne der Mann sich vollkommen loslösen: von seiner Arbeit, von seiner Familie, vom Leben selbst. Seine Studenten, die genau diese Eigenschaft an ihm reizte und faszinierte, hatten ihm den Spitznamen »der Mann vom Mars« verpasst – und ebendiese Distanz war es auch, die Nikolai das Gefühl gab, keinem anderen Menschen als Schostakowitsch sein Herz ausschütten zu können. Monatelang hatte er geschwiegen, um nicht verurteilt zu werden.
Doch eines Abends im Mai hatte er sich, dünn, schwach und zittrig, im Sommergarten mit Schostakowitsch getroffen und war mit ihm spazieren gegangen. Die lange Promenade war voller Menschen, hauptsächlich Paare, die unter dem dichten Baldachin der Lindenbäume ruhig dahinschlenderten. Nikolai blickte zu Boden, während er sprach, die Sohlen seiner geschundenen Stiefel weiter abschürfend.
Schostakowitsch hörte ihm bis zum Ende zu, bevor er etwas sagte. »Sie haben Angst, zu sehr zu lieben?«
Schwalben schossen knapp über ihnen durch die Luft und drehten mitten im Flug wieder ab. Nikolai duckte sich vor ihren Schatten und ließ sich auf die nächste Bank fallen. »Ich war es, der wollte, dass sie das Kind bekam! Sie war unsicher – sie war immer unsicher –, aber ich habe sie angefleht!« Die Wörter platzten aus ihm heraus wie ein lauter, peinlicher Schrei, und er schloss die Augen und dachte an jenen Abend zurück. Sie hatte am Fenster gesessen, sodass er nur ihre Silhouette sah. Deutlich zeichnete sich ihr Profil vor dem hellen Licht ab: das kleine, runde Kinn, die schräge Nase, die Wimpern, die so lang waren, dass alle Frauen in Leningrad sie darum beneideten. »Deine Karriere wird immer auf dich warten«, hatte er sie beruhigt. In Wahrheit war ihm ihre brillante Karriere in dem Moment herzlich egal. Ihre Karriere würde ihm keine Nachbildung dieses Profils schenken, diesesgeraden Rückens, dieser weichen und doch leidenschaftlichen Stimme.
»Das war mein größter Wunsch.« Er trocknete sich die Augen. »Ich liebte sie so sehr, wissen Sie. Ich wollte sicher sein, dass ein Teil von ihr weiterleben würde, selbst wenn wir beide tot wären. Ich habe die Gefahr nicht bedacht.«
»Sie ist an Grippe gestorben«, sagte Schostakowitsch.
»Ja, aber weil sie durch die Geburt geschwächt war!« Nikolai konnte kaum atmen. »Weil sie durch die Geburt krank geworden war und eine Depression bekommen hatte ...«
»Und jetzt versuchen Sie, das Kind nicht zu lieben? Ich muss Ihnen sagen, mein Freund, das erscheint mir doch ein wenig unlogisch.«
»Nicht unlogisch. Paradox vielleicht. Wenn meine Liebe meine Frau getötet hat, wird sie mit meiner Tochter das Gleiche tun. Ich darf es mir nicht gestatten.« Nikolai legte den Kopf auf die Knie. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen – ich bringe es nicht über mich, sie anzusehen. Ich schaffe es nicht, auch nur in ihre Nähe zu gehen.«
Es war das schlimmste Geständnis, das er je gemacht hatte, und es war wahr. Wenn Tanja rief, er solle schnell kommen (Das Baby lächelt! Das Baby zeigt mit dem Finger!), tat er so, als hätte er sie nicht gehört. Er beugte sich dann verbissen über die Arbeiten, die er gerade korrigierte, oder stellte das Radio lauter, um das Gemurmel aus dem Nebenzimmer zu übertönen. Abends hielt er vor der geschlossenen Tür inne, doch die Klinke schien seiner Berührung zu widerstehen. Bleib draußen , warnte sie. Du überträgst Gefahr und Tod . Dann wandte Nikolai sich von den ruhigen Atemgeräuschen in dem dämmrigen Zimmer ab und rief Tanja zu, er müsse noch einmal ins Konservatorium, er habe etwas vergessen; nur um Stunde um Stunde am Kanal entlangzulaufen, jede Brücke überquerend, an die er kam, immer hin und her auf einem sinnlosenKurs, der ihm Fluchtwege zu eröffnen schien und doch nirgendwo hinführte, schon gar nicht fort von sich selbst. Wenn er wieder vor seiner Wohnungstür stand, fühlte er sich vor lauter Schuldbewusstsein so schlecht, als wäre er im Puff gewesen und endgültig im moralischen Sumpf versunken.
»Ich möchte sie nicht lieben«, sagte er und sah Schostakowitsch an, der aufrecht neben ihm saß. Sein Profil war so scharf und deutlich wie aus einem Felsen gemeißelt, und Nikolai wartete benommen seinen Urteilsspruch ab.
Ein
Weitere Kostenlose Bücher