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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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paar kleine Jungs, die einen Fußball vor sich her kickten, liefen über die Allee, Sand stob hinter ihnen auf. Nikolai lehnte sich zurück und spürte, wie sich ihm die Latten der Bank in den Rücken gruben. Er war nur noch Haut und Knochen, wie Tanja ihm immer wieder sagte, wenn sie seine Suppe und sein Brot abräumte und er wieder nichts davon angerührt hatte.
    Schließlich sagte Schostakowitsch: »Sie können sich nicht aussuchen, ob Sie jemanden lieben.«
    »Was?« Nikolai, in einer um sich selbst kreisenden Welt der Erinnerungen verloren, hatte alles vergessen: wo er war, worüber sie sprachen. Er starrte auf die Laubbäume und das hohe, wehende Gras, drehte sein Gesicht zur Sonne, die hoch am hellblauen Himmel ihre Bahn zog, versuchte sich zu erinnern, welche Jahreszeit war.
    »In der Liebe hat man keine Wahl. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.« Schostakowitsch sprach mit großer Entschiedenheit, eher wie ein Sechzigjähriger und nicht wie ein Mann, der noch keine dreißig war.
    »Wirklich?« Nikolai wusste wenig über Schostakowitschs bewegte Vergangenheit, doch er war sich nicht sicher, ob er das zugeben sollte.
    Schostakowitsch seufzte. »Als junger Mann liebte ich ein Mädchen namens Tatjana Gliwenko, und sie liebte mich. Dann begann sie mich mehr zu lieben als ich sie. Sie hätte gern mit mir zusammengelebt, aber das wollteich nicht, weil ich inzwischen Nina Warsar kennengelernt hatte. Die Würfel waren gefallen, um mit den Glücksspielern zu reden.«
    Nikolai starrte ihn an. Er hatte nicht erwartet, dass die Geschichte so weit zurückreichen würde, in eine Zeit, als Leningrad noch Petrograd hieß und die feurige Nina noch gar nicht auf der Bildfläche erschienen war.
    »Glauben Sie, ich wollte das?« Schostakowitsch sah ein bisschen trotzig aus. »Glauben Sie, ich wollte Tatjana nicht mehr lieben, stattdessen aber Nina Warsar?«
    Nikolai scharrte mit den Füßen.
    »Natürlich nicht«, antwortete Schostakowitsch selbst. »Zumal ich nie vorhatte, schon in so jungen Jahren zu heiraten. Erst einmal wollte ich das Leben auskosten, aber wie sollte ich nun weiter angeln, wo ich doch selber fest am Haken hing?«
    Nikolai zuckte mit den Schultern und machte den Mund auf, doch Schostakowitsch hob die Hand. »Ich liebte Nina. So einfach war das. Und dann, wie Sie vielleicht gehört haben ...«
    Nikolai nickte taktvoll, verhalten.
    »Wie Sie vielleicht gehört haben«, wiederholte Schostakowitsch und blickte in die Ferne, »liebte ich sie irgendwann nicht mehr. Eine ganze Zeit lang. Jelena Konstantinowskaja hatte die Bühne betreten. Mein Gott, was für eine Frau.« Er pfiff leise. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Nikolai. Lassen Sie sich niemals mit einer Frau ein, die zwölf Sprachen spricht und alle zwölf mit Engelszungen. Im Bett macht sie einen verrückt und im Streit wahnsinnig.«
    Nikolai erinnerte sich gut an jenen Sommer: Er hatte seine Stelle am Konservatorium gerade angetreten, und dank seiner neuen Vertrautheit mit den Musikerkreisen der Stadt bekam er mehr davon mit, was um ihn herum vor sich ging. Jeder wusste von der Affäre, doch niemand sprach darüber, denn Nina Warsar war sehr beliebt. Jelena glitt die Treppe des Mariinski-Theaters hinauf, das Haar hoch aufgetürmt,sodass ihr weißer Nacken bloß lag und zum Küssen einlud – oder zum Beißen. Die Leute unten im Foyer tuschelten, und oben an der Treppe wartete, mit bleichem, ausdruckslosem Gesicht, Schostakowitsch. Nur die Art, wie er Jelena am Ellbogen fasste und ihre Hüften sich leicht berührten, deutete auf die Intimität zwischen ihnen hin.
    »Nach diesem Sturm«, fuhr Schostakowitsch fort, als erzählte er ein Epos, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde, »fand ich noch einmal einen Hafen der Ruhe. Ich verliebte mich wunderbarerweise erneut in Nina; und sie nahm mich glücklicherweise zurück. Unsere Liebe erblühte zum zweiten Mal, und die Vorstellung ging weiter!«
    Schwindelerregende Mückenkreise trudelten durch die Abendluft, doch Nikolai saß reglos da. Er hatte weder solche Geständnisse erwartet noch damit gerechnet, dass ihm so viel leichter ums Herz sein würde.
    »Ich will damit Folgendes sagen.« Schostakowitsch kehrte in die Gegenwart zurück. »Man liebt oder man liebt nicht. Sie können diese Liebe nicht in einer bestimmten Gewichtung bestellen wie eine Packung Tee. Und auch ihre Temperatur können Sie nicht einstellen: heiß, kalt, mild, lau. Wenn Sie Ihr Kind lieben – und davon bin ich so gut wie

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