Dirigent
das Beil hinter dem Ofen heraus. Dann knallte er die Tür hinter sich zu und polterte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinunter, wobei er die Axt so unbekümmert über dem Geländer schwang, dass immer wieder Stahl auf Stahl schepperte.
Als er unten war, trat Frau Gessen alarmiert vor die Tür. »Ich dachte doch, dass ich etwas gehört hätte. Zum Glück sind Sie es nur.« Seit der Nacht, als ihr Haus beinahe getroffen worden war, konnte sie ihre Nervosität nicht mehr beherrschen; ihre Augen flatterten wie die einer Echse, ihr Kopf ruckte hierhin und dorthin.
»Ja, ich bin es nur«, wiederholte Nikolai, doch seine Stimme hallte im beschädigten Hausflur wider und klang überhaupt nicht nach ihm selbst.
»Was haben Sie da in der Hand?« Als sie das Beil sah, schwand Frau Gessens Erleichterung zusehends. »Wo wollen Sie denn damit hin?«
»Ich brauche Brennholz. Meine Hände sind taub, und ich kann nicht üben.«
»Aber wo wollen Sie ... was haben Sie ...? Doch nicht die Bäume ?« Frau Gessen schien seine Gedanken von vorhin aufgesogen zu haben; es war, als wäre seine Wut durch die kaputten Fußbodenbretter gedrungen und durch Decken und Böden bis in ihr Wohnzimmer gesickert.
»Es sind ja wohl mehr als genug Bäume da.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn die Stadt die musikalische Beschwörung von Engeln hören möchte, muss sie dafür auch Opfer bringen. Finden Sie nicht?«
»Engel?«, stotterte Frau Gessen.
»Schostakowitschs Siebente«, sagte er ungeduldig. »Ich hungere seit elf Monaten, mein Kreislauf ist wegen der Mangelernährung so gestört, dass mir nicht mehr warm wird und ich keine Note anständig spielen kann, und trotzdem soll ich in fünf Tagen bei der Aufführung einer Sinfonie für die Stadt mitwirken. Finden Sie das richtig?«
»Aber die Bäume! Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Leningrader einen Baum fällen würde?«
»Leningrader fällen keine Bäume.« Er beugte sich dicht zu ihr vor. »Die meisten scheinen lieber dasitzen und sich die Bäume anschauen zu wollen, während sie auf den Tod warten. Ich weigere mich, es ihnen gleichzutun.« Er war so wütend, dass der Flur sich um ihn zu drehen begann und er sich am Geländer festhalten musste. Als er schwer atmend dort lehnte und die ihm vertraute Umgebung wahrnahm – die abgeplatzten Gipsblumen über der Tür, den zerkratzten Boden, die Wand mit der Reihe von Briefkästen –, kam er wieder zur Vernunft. Vielleicht sollte er sich doch etwas anderes einfallen lassen. Immerhin standen die Bäume mitten im Blickfeld einer Polizeistreife,und ein Irrer, der eine Axt schwang, würde mit Sicherheit verhaftet werden. ( Rational bis zuletzt! , sagte Schostakowitsch auf seine typische, halb bewundernde, halb spöttische Art. Wie vernünftig, Ärger zu vermeiden, damit du in aller Ruhe fortfahren kannst, deinen Tod zu planen! )
»Na schön, Sie haben gewonnen.« Nikolai trocknete sich die Stirn. Er meinte sowohl Frau Gessen als auch den fernen Schostakowitsch. »Die Bäume können bleiben.«
Frau Gessen stieß einen Seufzer aus. »Sie sind schließlich Eigentum der Stadt. Ich hätte Sie anzeigen müssen, wenn ich Sie dabei erwischt hätte – oder auch nur auf dem Weg dahin. Und nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, möchte doch niemand mehr einen Nachbarn anzeigen. Einen ganz neuen Gemeinschaftsgeist – das ist es, was diese finsteren Zeiten uns beschert haben. Eine schöne neue Coura–«
»Ja, ja. Entschuldigen Sie mich, bitte.« Nikolai drängte sich an ihrem neu entdeckten Idealismus vorbei und ging zu den Briefkästen.
»Sie werden heute keine Post finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Heute nicht und wahrscheinlich noch eine ganze Weile nicht.« Trotzdem kam sie ein Stück näher, die Post anderer Leute hatte schon immer ihre Neugier entfacht. »Meine Cousine arbeitet im Postlager, wissen Sie, und sie sagt, dass seit einer Woche keine Post mehr über den Ladogasee gekommen ist. Es ist nicht klar, warum, aber ihre Vermutung ist –«
»Ich fürchte, ich interessiere mich nicht für die Arbeit Ihrer Cousine«, unterbrach Nikolai sie. »Nur für meine.« Er musterte die Briefkästen mit professionellem Blick; seiner hing in der Mitte einer Reihe, was seine Aufgabe um einiges erschwerte. Er schwang die Axt hoch über die Schulter. »Gehen Sie bitte aus dem Weg!«
Frau Gessen kreischte auf. »Sind Sie verrückt? Das ist öffentliches Eigentum!«
Ohne sie zu beachten, holte Nikolai aus und versenktedie
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