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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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zeichnete mit seinen Stummelfingern Spuren in den Dreck. Sobald er sie erblickte, sprang er auf. »Herr Elias! Hurra, Sie sind wieder zu Hause!«
    »Freut mich auch, dich zu sehen.« Elias hustete – sicher war es der Staub, der seine Augen prickeln und seine Stimme leicht belegt klingen ließ.
    Waleri sah Nikolai ernst an. »Herr Elias gibt mir oft etwas von seinen Rationen ab. Er sagt, ich muss wieder stark und groß werden, so wie früher.« Er trat einen Schritt zurück und spannte imaginäre Muskeln an seinem stockdürren Arm an.
    »Das ist nett von ihm«, sagte Nikolai. »Obwohl es ihm auch nicht schaden würde, für sich selbst so zu sorgen wie für andere.«
    »Mir geht’s gut«, murmelte Elias. »Ich tue nur, was jeder tun würde.«
    Waleri nahm ihm die Partitur ab und hielt sie in den Händen, als wäre sie aus Glas. »Das ist das Werk von Herrn Schostakowitsch«, teilte er Nikolai mit. »Er ist sehr berühmt. Bald findet ein großes Konzert statt unter Herrn Elias’ Leitung.«
    »Ich habe davon gehört«, sagte Nikolai. »Wollen wir hineingehen?«
    Und so kam Elias nach Hause, flankiert von einem eifrigen x-beinigen Jungen und einem großherzigen gramgebeugten Mann. Als er die Wohnungstür aufmachte und das leere Bett sah, war er über die Begleitung so froh wie noch nie.
Der Briefkasten
    Es schien merkwürdig, dass die Bäume bislang unangetastet geblieben waren. Als Nikolai aus dem Fenster sah und durch das Kreuz und Quer des Klebebands und das zerkratzte Glas blickte, sah er die Baumkronen im Park, die jetzt von einem tiefen Dunkelgrün waren. Während der finsteren eisigen Monate des Winters hatten die Menschen auf der Suche nach Brennstoff jedes zerbombte Haus leer geräumt, jede getroffene Fabrik geplündert. Alles, was nicht angekettet oder eingeschlossen war, hatten sie mitgenommen: mit bloßen Händen zerrissen, mit Äxten zerhackt und auf Schlitten abtransportiert, um kleine, qualmende Öfen zu füttern und sich gegen die extreme Kälte zu wehren, die das Blut nur noch ganz langsam zirkulieren ließ. Möbel, Tapeten, Bücher; Dung aus den städtischen Ställen, ergattert, bevor die Pferde erschossen und verzehrt wurden. Alles, was nur irgend brennbar schien, war geraubt worden – warum also hatten die Bäume überlebt?
    Er betrachtete die grünen Wolken, die wie Rauchsignale am Himmel aufstiegen. War es schiere Romantik? Vielleicht – und Nationalstolz. In Berlin hatte Hitler aus ästhetischen Gründen den Befehl gegeben, die Lindenbäume abzuholzen, während die Leningrader lieber erfroren, als ihre Bäume zu schänden.
    Dieser Gedanke machte Nikolai wütend. Angesichts des Zustands, in dem Leningrad sich befand, der Berge von Schutt, der zertrümmerten Kirchen und zerbrochenen Brunnen, der aufgerissenen Straßen und klaffenden Gräben,wo einst elegante Wohnhäuser gestanden hatten! Er brachte kein Verständnis für russische Romantik mehr auf, erst recht nicht, wenn er an all die verstümmelten Körper dachte, die er im Frühling gesehen hatte.
    Tanja zog sich an, um zur Arbeit zu gehen. »Ich muss los. Hier auf der Anrichte ist etwas Reis für später.« Der Mantel hing ihr lose um die Schultern, und durch das dünne Haar schimmerte die Kopfhaut hindurch, doch sie schien sich mehr um Nikolais Gesundheit als um ihre eigene zu sorgen. Sie hatte ein bemerkenswertes Geschick entwickelt, Schwarzmarktartikel zu erbeuten (fünfzig Gramm Speck hier, eine kleine Packung Linsen dort), nur um ihn zu ernähren.
    »Reis.« Er nickte abwesend.
    »Vergiss nicht, ihn zu essen.« Sie verschränkte die Arme. »Du musst bei Kräften bleiben.«
    »Bei Kräften? Wofür?« In diesen orientierungslosen, monotonen Zeiten schien ihm nichts irgendeinen Sinn zu haben.
    »Für das Konzert natürlich!«
    »Ah, das Konzert«, sagte Nikolai. »Ja, es ist sehr wichtig, dass ich kalten Reis esse, nur damit ich möglichst gut Geige spiele, um die Leningrader von der Wahrheit abzulenken – die da wäre, dass ihre Partei nicht in der Lage ist, sie vor Hunger und Tod zu beschützen.«
    Tanja sah ihn tadelnd an, obwohl sie Konzerte noch ein Jahr zuvor für reine Zeit- und Geldverschwendung erachtet hatte. »Die Plakate hängen schon. Die Leute kaufen bereits Eintrittskarten. Die ganze Stadt freut sich darauf.«
    »Die Stadt wäre besser beraten, ihr Geld zu sparen und stattdessen in die Kirche zu gehen, um dafür zu beten, dass dieser verdammte Stillstand endet. Was nützen siebzig Minuten Musik, wenn wir die nächsten zehn

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