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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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rasch an ihm vorbei. Mit jeder versäumten Gelegenheit, jedem Gespräch, in dem sie hätte erwähnt werden können, aber nicht erwähnt wurde, verschwand Sonja ein bisschen mehr. Täglich verblassten die Bilder in Nikolais Kopf – ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Nase. Bald wäre nichts mehr von ihr übrig.
    Er würde bis zum Abend des Konzerts warten – so viel war er Schostakowitsch schuldig und Eliasberg auch. Dann würde er fliehen. Er würde Tanja zur Siegesfeier einladen, die auf jeden Fall stattfand, ob die Aufführung nun ein Erfolg wurde oder nicht: Politkommissare mit stolzgeschwellter Brust, eine Fülle von nahrhaften Speisen, die zuvor Menschenleben hätte retten können. Er würde sich davonstehlen und hierher zurückkehren, wo er hingehörte. Und dann würde er es endlich tun.
    Er tastete nach der kleinen Dose, die er mit Klebeband unter dem Fensterbrett befestigt hatte, das merkwürdige, aber nicht ganz unwillkommene Geschenk eines Pathologen, der mit seiner an den Rollstuhl gefesselten musikliebenden Frau in der Wohnung unter ihnen gewohnt hatte. »Sie hat Sie jahrelang üben hören«, hatte er zu Nikolai gesagt. »Ihr Spiel war ein Ausweg für sie. Das Mindeste, was ich Ihnen dafür geben kann, ist die Möglichkeit, selbst eines Tages einen Ausweg zu finden.«
    Dr. Ostrowski war am kältesten Tag im Januar gestorben, zwei Tage nach seiner Frau. Die vorgebliche Todesursachewar eine Rippenfellentzündung, doch daran glaubte Nikolai nicht, denn er wusste, wie sehr der Arzt seine Frau geliebt hatte. Nach dessen Ableben hatte Nikolai die Dose geöffnet und die Kapsel betrachtet – Zyanid, gemischt mit Essigsäure, um, wie Ostrowski sich ausdrückte, »das Resultat abzusichern«. Wie seltsam, dass so ein kleiner Gegenstand eine beengende Welt aufsprengen und die Luft hereinströmen lassen konnte!
    Eine Zeitlang hatte er geglaubt, Nina Bronnikowa könnte seine Rettung sein. Wenn er sie in dem langen grausamen Winter (immer auf der Suche nach Sonjas kleiner Gestalt) irgendwo erblickte, hatte sein Herz höher geschlagen. Ihre Zufallsbegegnungen hatten ihm die Kraft gegeben weiterzumachen, so wie später das sichere Wissen, sie bei den Proben zu sehen. Ihre Zartheit, ihr kostbares Lächeln, ihr Bemühen, hinzunehmen, dass ihre Karriere zerstört war: All das hatte ihn beeindruckt und bezaubert. Doch schon bald war ihm etwas klar geworden. Er hatte in seinem Leben nicht nur einmal, sondern schon zweimal geliebt, mit einer Innigkeit und Treue, die nicht mehr zu überbieten waren. Was er von seiner Frau und seiner Tochter geschenkt bekommen hatte, war mehr, als irgendwer in der Spanne eines Lebens erwarten konnte. Und so hatte er sich von der Flamme, von Nina, zurückgezogen, hatte auf die Möglichkeit der Wärme verzichtet, und empfand weder Sehnsucht danach noch Bedauern.
    Obwohl Sonnenlicht das Zimmer durchflutete, waren seine Finger vor Kälte taub. Die Folgen der Mangelernährung waren weit schlimmer, als er es für möglich gehalten hatte; er fror unablässig. Mit Mühe öffnete er den Geigenkasten, hauchte in seine Hände, versuchte sich an ein paar Übungen. Doch selbst einfache Arpeggien wollten ihm nicht gelingen.
    Er fluchte und legte die Geige so unsanft ab, dass die Saiten misstönend klirrten. Es war unerträglich! So weit gekommen zu sein und nun nicht spielen zu können! Ersah sich nach irgendetwas um, das sich im Ofen verbrennen ließ. »Aber das nicht«, sagte er laut. »Du nicht.«
    Über ihm, hinter der Deckenverkleidung, lag das Cello, in fadenscheinige Decken gehüllt wie ein schlafendes Kind. Er dachte an die erste Probe zurück, als die Musiker Geigen mit zerbrochenen Schnecken und Kontrabässe mit Sprüngen im Holz ausgepackt hatten. »Hat jemand zufällig Kenntnis von irgendwelchen ungenutzten Instrumenten?«, hatte Elias verzweifelt gefragt. Nikolai hatte den Kopf geschüttelt. Das Cello würde in seinem Versteck bleiben, vielleicht für immer.
    Der Anblick der Wohnung – die von dem Bombeneinschlag nebenan verursachten Risse, die dunklen Rechtecke an der Wand, wo einst Bilder gehangen hatten –, erfüllte ihn mit solcher Wut, dass er kaum an sich halten konnte. Noch ein Jahr zuvor war dies sein Zuhause gewesen. Noch ein Jahr zuvor hatte er Melodien spielen können, die den Menschen Tränen in die Augen trieben. »Und jetzt?« Er spuckte auf den nackten Boden. »Jetzt wohne ich in einem leeren Gehäuse und spiele nicht besser als ein Kind.«
    Er zog sich die Handschuhe an und holte

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