Dirigent
wäre es mit einem Schluck Wodka?«, schlug er ein wenig hilflos vor.
»Tolle Idee!« Waleri schob dem Käfer einen Kieselstein hin. »Hier, Herr General, ein Flachmann. Bringt Sie vielleicht wieder auf die Beine.«
Elias sah voller Hoffnung zu, doch der Käfer rührte sich nicht, und Waleri runzelte die Stirn.
»Könnte es nicht auch sein, dass er Schlaf braucht?« Im Abwenden von Krisen wiederum kannte Elias sich aus. »Vielleicht solltest du sie in ihre Schachtel – ich meine, in ihre Baracken bringen.«
»Shukow schläft nie. Er ist den ganzen Weg bis zur Moskauer Front neben seinem Konvoi hergelaufen, nur um wach zu bleiben.« Finster betrachtete Waleri den reglosen Käfer. »Seine einzige Stärkung in jener Nacht war eine Tasse Tee .«
Elias ließ den Blick über die ruhige Straße wandern. War es zu früh, um ins Bett zu gehen? Am kommenden Tag stand die Voraufnahme seiner Rundfunkübertragung an, eine beängstigende Aussicht. Am Tag danach die Generalprobe – ebenso beängstigend – und dann das Schlimmste: das Konzert selbst. Er brauchte Schlaf, um die Gedanken an alles, was vor ihm lag, auszuschalten und Kraft zu sammeln, aber es widerstrebte ihm, in sein leeres Zimmer hinaufzugehen. Außerdem schien Waleri ihn gern in seiner Nähe zu haben. Es war nicht lange her, da hatte er geglaubt, der Junge fände ihn langweilig und phantasielos; auch jetzt befiel ihn noch eine gewisse Scheu, wenn er das vertraute Klopfen an seiner Tür hörte und öffnete. Doch Waleri schien es nicht zu bemerken, sondern bezog Elias, von Gleich zu Gleich, mit großer Ernsthaftigkeit in seine Spiele ein.
In der Ferne grollten wie nicht enden wollender Donnerdie Geschütze. Ein Luftüberwachungsflugzeug schoss im Tiefflug über die Straße, und Elias duckte sich vor dem dröhnenden Schatten. »Was hast du gesagt?« Ihm war undeutlich bewusst, dass Waleri ihn etwas gefragt hatte.
»Fehlt sie Ihnen? Ihre Mama, meine ich. Sie hat zwar manchmal gemeckert, aber sie war auch sehr großzügig mit ihren Hustenbonbons und so.«
»Ob sie mir fehlt?« Elias lief rot an. Er und Waleri hatten sich bisher über die Luftangriffe und das Konzert unterhalten, über Hunger im Allgemeinen und Waleris Heißhunger auf Eiscreme im Besonderen – aber noch nie über jenen grauen trostlosen Morgen, an dem seine Mutter gestorben war. Den fahlen tiefhängenden Himmel, den holperigen Marsch über die Straßen, die schweigende Prozession all der Menschen, die Leichen zum Friedhof zogen. »Nun ja, sie war alt und sehr krank. Manche würden sagen, es war eine Erlösung.«
»Aber Sie sind doch bestimmt einsam.« Waleri balancierte die Käfer jetzt auf seinen mageren Knien, einen links, einen rechts. Seine Beine waren überall mit dem feinen Flaum der Mangelernährung bedeckt.
Elias’ Herz krampfte sich zusammen, als er das sah. »Hast du heute genug zu essen gehabt? Ich habe noch ein bisschen von meiner Brotration übrig. Wir bekommen diese Woche mehr wegen des Konzerts.«
»Geht schon«, sagte Waleri tapfer. »Ich habe vor allem Hunger auf die Sachen, die ich nicht haben kann. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass alles anders ist.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Elias mit warmer Stimme. Auch ihm erschien es noch immer unglaublich, dass das Leben sich so schnell und so vollständig ändern konnte: Nicht nur die Stadt lag in Trümmern, auch seine eigenen Gewohnheiten waren völlig zersplittert. Am schlimmsten war stets der Moment, wenn er die Wohnungstür öffnete. Noch jetzt horchte und schaute er als Erstes nach seiner Mutter und erschrak jedes Mal aufsNeue, wenn er die flache Bettdecke sah und die Stille wahrnahm.
»Schauen Sie mal!« Waleri zeigte auf die Straße. »Da hat es jemand aber wirklich eilig.«
Elias’ Augen waren so schlecht geworden, dass er die Welt sogar mit Brille nur verschwommen sah. Aber tatsächlich, da kam jemand angerannt. Das war dieser Tage, außer bei Fliegeralarm, ein seltener Anblick; die meisten Leute gingen langsam und unsicher, als wüssten sie nicht genau, ob ihre Beine sie bis zum nächsten Laternenpfahl tragen würden. »Ich glaube, es ist –« Er stand beunruhigt auf. »Ja, es ist Nikolai.«
»Er ist Ihr Freund, stimmt’s?« Es klang, als wollte Waleri sichergehen, dass da gute Nachrichten auf sie zukamen und keine schlechten.
»Ja, er ist mein Freund.« Etwas überrascht stellte Elias fest, dass es vollkommen stimmte – es hörte sich weder falsch noch gezwungen an.
»Ich bin so froh, Sie
Weitere Kostenlose Bücher