Dirigent
Jahre bombardiert und ausgehungert werden?«
»Rede nicht so. Einer der Ärzte hat gesagt, dass es, Herrn Eliasberg zufolge, das wichtigste Konzert wird, dasje in Leningrad gegeben wurde! Das wichtigste seit unvordenklichen Zeiten !«
Die Formulierung klang kein bisschen nach Elias; Tanja hatte Geschichten schon immer ausgeschmückt, vor allem wenn es um Dinge ging, von denen sie nichts verstand. Die Inbrunst und Leidenschaft allerdings waren als seine erkennbar. Nikolai hatte das Glänzen in Elias’ Augen gesehen, als er die Musiker antrieb, ihre Müdigkeit und Verzweiflung ignorierend. In solchen Momenten war es schwer, an das Gerede zu glauben, das es vor dem Krieg gegeben hatte – über die mangelnde Disziplin des Rundfunkorchesters, die öffentlichen Meutereien und Witzeleien sowie einen bestimmten Musiker (hieß er Alexander?), der nicht nur seine Kollegen, sondern auch den Dirigenten regelmäßig verhöhnt hatte.
Tanja hatte fast einen verschleierten Blick. »Nach dem Konzert wird die Moral in der Stadt emporschnellen. Das haben sowohl der Arzt als auch Herr Eliasberg gesagt. Die Kraft der Musik wird unsere Armee stärken – und dann werden wir den Krieg bestimmt gewinnen.«
»Herr Eliasberg hat eine eigene Rechnung zu begleichen. Das Astoria-Krankenhaus mag von seiner Mission überzeugt sein, aber es ist unwahrscheinlich, dass er aus rein altruistischen Motiven für dieses Konzert sein Leben aufs Spiel setzt.« Nikolai war sich seines wachsenden Zorns unangenehm bewusst. Zorn auf Tanja, die so unerwartet für die Sache der Musik eintrat, und Zorn auf Elias, der so kühn geworden war, dass er andere im Vergleich dazu wie Feiglinge aussehen ließ. Auf Schostakowitsch, weil er eine Sinfonie geschrieben hatte, die schon jetzt zu einem Symbol geworden war, und auf die Bewohner Leningrads, die aus lauter Verzweiflung in Scharen zu dem Konzert kommen würden, um einem aus lebenden Leichen bestehenden Orchester zu lauschen. Er zürnte den Politikern, die eine derartige musikalische Farce auf den Weg gebracht hatten, dem Piloten, der sein Leben riskierthatte, indem er die Partitur über die feindlichen Linien flog, und der Roten Armee, die nicht stark genug war, die Deutschen zurückzudrängen. Es gab auf der ganzen Welt nur eine Person, die keinerlei Zorn in ihm entfachte; sie war zu dem Stoff geworden, aus dem Märchen und Fabeln sind: die Nadel im Heuhaufen, die Erbse unter der Matratze; sie reizte seine Erinnerung, brachte ihn um den Schlaf, nie vergessen, aber nie leibhaftig da. Tag für Tag wich die Kraft aus ihm. Er hatte den Winter überlebt, nur um vom Anblick der grünen Bäume und dem Aroma der Leere tödlich geschwächt zu werden. Sonja, du bringst mich um. Deine Abwesenheit wird mein Tod sein.
Er sah zu, wie Tanja sich einen Schal um ihr spärliches Haar band und aus der Tür eilte. Erleichtert fuhr er sich mit den Fingern durch den langen Bart, wenigstens hatte sie vergessen, ihn wegen seiner Haare zu schelten.
»Eins noch.« Ihr Kopf erschien wieder im Türspalt. »Du solltest dir mal den Bart trimmen. Du siehst aus wie ein Seemann, nur dass du dich nicht darauf herausreden kannst, Wochen auf dem Meer gewesen zu sein. Als Herr Eliasberg im Krankenhaus lag, hat er sich jeden Tag rasiert.«
Es gab nichts, was er nach ihr werfen konnte; fast all ihr Hab und Gut war verkauft, getauscht oder zu Brennholz zerhackt worden. Er fuchtelte entschieden mit der Hand, eine Geste, die ebenso gut »In Ordnung« wie »Geh weg« heißen mochte. Sie schien es zufrieden, jedenfalls verschwand sie, und ihre Schritte verhallten im Treppenhaus.
Er war endlich allein.
In den vergangenen Monaten hatte er versucht, den Augenblick zu leben. Doch sein Wunsch zu fliehen wurde immer verzweifelter. Er bekam keine Luft mehr in dieser Stadt, wo Resignation die Straßen überzog wie der klebrige Saft von Lindenblättern. Nach offizieller Verlautbarung würde die Belagerung bis zum Ende des Sommersvorbei sein – doch diese Beteuerungen klangen in seinen Ohren hohl. Nichts als Propaganda und ein gerüttelt Maß an Wunschdenken.
In der Ruhe, die sich ausbreitete, nachdem Tanja gegangen war, kam er zu einem Entschluss. Es war nicht so schwer, wie er gedacht hatte, denn mit dem Zuklappen der Tür hatte er endlich begriffen, dass Sonja nicht zurückkommen würde. Er hatte seit Wochen nicht mehr von ihr gesprochen. Tanja nannte ihren Namen nicht mehr, die wenigen Nachbarn, die überlebt hatten, gingen im bröckelnden Treppenhaus
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