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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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in Sicherheit ist.
    Unten auf der Seite war ein kleiner verwischter Stempel: Miusskaja Straße, Waisenhaus, Swerdlowsk.
    Nikolai sank auf die Knie. Er zitterte am ganzen Körper, allerdings nicht vor Kälte. Mit bebenden Fingern zog er den zweiten Bogen Papier aus dem Briefumschlag. Er war nicht mit Maschine, sondern mit der Hand geschrieben, und jenseits der wackligen Zeilen hörte er eine leise, feste Stimme:
    Liebster Papa,
    ich hatte eine Reihe von Missgeschicken, wie Tante T das nennen würde. Die zuständige Dame macht sich Sorgen, dass Du den ersten Brief nicht bekommen hast, aber ich habe ihr gesagt, dass Du immer viel zu tun hast. Bitte komm bald. Ich vermisse Dich so sehr, dass ich jeden Tag weine.
    Deine Dich liebende Sonja.
    PS: Könntest Du mir das Cello mitbringen? Ich bin ganz aus der Übung.
    Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine zitterten so stark, dass er halb gegen die Wand fiel. Dort lehnte er mit hämmerndem Herzen. Sonja lebte. Sie war nicht von einer Bombe zerfetzt worden, hatte nicht blutend neben einem entgleisten Zug gelegen, bis ihr Herz versagte, vermoderte nicht in einem schlammigen unbekannten Grab.
    »Sonja, mein Liebling.« Seine Kehle war voller Tränen, und er konnte kaum sprechen. »Sonja, halt durch, nur noch ein bisschen länger.«
    Plötzlich sah er ihr Gesicht wieder vor sich, klar und deutlich: ihre samtschwarzen liebevollen Augen, ihr hoffnungsvolles Lächeln, das Grübchen auf einer Seite ihres Mundes. Sie sagte etwas, aber da er ihre Stimme so lange nicht gehört hatte, musste er sich anstrengen, um sie zu verstehen. »Ich wusste, dass du kommen würdest, um mich zu holen! Ich wusste es.«
    Die Einsamkeit, in der er den ganzen Winter über eingesperrt gewesen war wie in einem Sarg, brach auf und fiel von ihm ab. Das Gefühl der Erlösung war beinahe schmerzhaft. Er zerknüllte den Brief in seiner Hand und drückte so fest zu, wie er konnte. Sonja . Das Licht im Zimmer schien intensiver zu werden. Die Streifen, die die Sonne auf den Boden warf, flackerten und liefen ineinander, sodass es schien, als stünde er knöcheltief in hell schimmerndem Wasser. Immer noch wiederholte er ein ums andere Mal ihren Namen, Sonja, Sonja , bis er in seinen Ohren läutete wie eine Glocke, die einer erleichterten und erschöpften Welt den Waffenstillstand verkündet.
Prioritäten
    Elias saß in der Abendsonne auf den Stufen vor dem Haus und beobachtete zwei Käfer, die um ein paar Kieselsteine herumstolzierten.
    »Es hat keinen Zweck mit ihnen.« Enttäuscht stieß Waleri den kleineren Käfer an. »Nun marschiert schon!«
    »Vielleicht brauchen sie etwas zu essen wie alle in Leningrad«, gab Elias zu bedenken. »Meine Leute arbeiten nicht so gut, weil sie Hunger haben. Ich nehme an, bei Käfern ist es dasselbe.«
    »Das soll keine Beleidigung sein, aber Ihre Leute sind Musiker, und Herr Schapran sagt, Musiker sind weich. Diese Käfer dagegen sind Generäle, deshalb müssten sie mit allen möglichen Härten fertigwerden.« Waleri stupste den trödelnden größeren Käfer mit dem Finger an. »Das ist General Shukow. Wenn wir ihn in Leningrad behalten hätten, anstatt ihn Moskau zu überlassen, wären die Deutschen in null Komma nichts zurückgedrängt worden.«
    »Wirklich?« Elias wusste wenig von dem militärischen Chaos, das sich in den frühen Stadien der Belagerung ereignet hatte. Wenn er an den vergangenen Sommer zurückdachte, dann zuallererst an die extreme Hitze, die fast bedrohlich gewirkt hatte, und an seine Angst, als er eines Morgens zum ersten Mal einen vor Waffen starrenden Horizont sah.
    »Und dies ist General Mereschkow.« Waleri schob den anderen Käfer mit einem kleinen Stock vorwärts. »Er hat letztes Jahr am neunten Dezember Tichwin für uns zurückerobert. Dann wurde die Bahnverbindung nach Nowaja Ladoga wiederhergestellt, und es konnten wieder Lebensmittel über den See transportiert werden.«
    Daran erinnerte sich Elias sogar. Es war die eine Tatsache gewesen, an die man sich klammern konnte, als die Menschen angefangen hatten, den Toten die Lebensmittelkarten zu stehlen.
    »Ohne Mereschkow wären wir vielleicht alle gestorben. Aber sehen Sie ihn sich jetzt an! Völlig nutzlos.« Waleri starrte den auf dem Rücken im Dreck liegenden Käfer an. »Meinen Sie, er braucht Wasser?«
    Elias zögerte. Er war nicht sicher, wie man dieses Spiel spielte: Sprachen sie von einem Käfer, der Flüssigkeit brauchte, oder von den Bedürfnissen eines Generals der Roten Armee? »Wie

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