Dirigent
Klinge tief im Holz. Er riss die Axt wieder heraus und hob sie erneut. Beim zweiten, ebenso zielsicheren Hieb zerbrach der Kasten in etliche Teile. »Was nützt einem ein Briefkasten, wenn keine Post mehr eingeworfen wird?«, fragte er über die Schulter hinweg. »Ich habe bessere Verwendung dafür.«
»Sie wollen unsere Briefkästen verbrennen?«, fragte Frau Gessen entgeistert.
»Nein, nur meinen.« Nikolai begann die Holzsplitter aufzusammeln. »Zumindest für heute. Ein Kasten gibt wohl genügend Brennstoff ab, um eine Stunde zu üben. Was voll und ganz unserer Stadt zugutekommt, wie ich hinzufügen möchte.«
»Genügend Brennstoff für heute!«, keuchte Frau Gessen. »Leben Sie denn nur in der Gegenwart?«
»Keineswegs.« Er drückte das Holz an seine Brust. »Ich habe schon einen Plan für morgen, und der betrifft die Bäume.«
In seinen gutmütigen Zeiten wäre er nie in der Lage gewesen, Frau Gessen ins Stottern zu bringen; als er sie jetzt zurückweichen und die Tür hinter sich zuschlagen sah, war er von seinem Erfolg fast beeindruckt. Er drehte sich um und inspizierte sein Werk. »Nicht schlecht«, lobte er sich selbst. Dort, wo sein eigener Briefkasten gehangen hatte, klaffte eine Lücke, doch die benachbarten Kästen waren intakt geblieben. »Nicht schlecht!«, wiederholte er.
Während er mit dem Ärmel die Splitter von den anderen Kästen fegte ( stets der rücksichtsvolle Nachbar , bemerkte Schostakowitsch), entdeckte er auf einmal den Zipfel eines Stücks Papier, das zwischen der Rückwand des unteren Briefkastens und der feuchten Wand dahinter eingeklemmt war. Er konnte gerade eben einen mit Schreibmaschine geschriebenen Nachnamen (seinen) und die ersten Buchstaben eines Straßennamens (ebenfalls seinen) ausmachen. Er legte das Holz auf den Boden, zog den durchnässten Briefumschlag aus dem Spalt und öffneteihn vorsichtig. Eine Rechnung für Reparaturen an seiner Geige, ganze zehn Monate alt. Er dachte rasch nach. Zwei Wochen nachdem Isaak Erkenow dies in seiner sorgfältigen Handschrift notiert hatte, war er mit einer Freiwilligendivision abmarschiert, und er war nicht wieder von der Front zurückgekehrt.
Nikolai faltete den Zettel und steckte ihn in seine Tasche. Lebte Erkenows Witwe noch? Er musste es herausfinden, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon er seine Schulden begleichen sollte. Wie absurd, dass er nach all der Zeit diese Rechnung fand – noch dazu infolge seines waghalsigen Vorgehens. Er blickte erneut zu dem schmierigen Spalt, in den der Umschlag gerutscht war. Wie viel mehr von seiner Post mochte auf diese Weise abhandengekommen sein? Mit seinen dank dem Holzhacken inzwischen nicht mehr tauben Fingern fischte er hinter den Kästen herum – und bekam die Ecke eines weiteren Stücks Papier zu fassen. Als er es herausziehen wollte, rutschte es tiefer in den Spalt hinein. Er fluchte und versuchte es weiter.
Hinter sich hörte er erneut die Tür knarren. »Sie können Ihrer Postlager-Cousine ausrichten«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »dass ich meine Briefe gern bekomme, bevor sie ein Jahr alt sind.« Ganz langsam und behutsam schob er den Umschlag an der Wand hinauf. »Hab dich, du Schuft!« Die Tür wurde wieder zugeknallt, sodass ein Staubregen von der längst ausgebrannten Glühbirne rieselte.
Nikolai spähte ein drittes Mal in den Spalt. Nichts. Er nahm das Holz wieder auf und ging die Treppe hinauf; von den Gessen’schen Verhören hatte er für einen Tag genug.
Oben in seiner Wohnung erwartete ihn die Kälte. Sie drang in ihn ein, ein vertrauter und seltsam verführerischer Gegner. Wie leicht wäre es, sich hinzulegen und aufzugeben. Er ging zum Ofen, warf das Holz auf den Boden und riss den zweiten Umschlag auf. Er war in Swerdlowsk abgestempelt und – er sah genau hin – im Oktober abgeschickt worden. Langweilige Nachrichten also von seinenfernen Verwandten in Swerdlowsk, die noch in Kriegszeiten das Wetter für das interessanteste Thema hielten.
In dem Umschlag steckten zwei Bogen Papier, doch erstaunlicherweise war der obere mit der Maschine geschrieben – die Farbstärke ungleichmäßig, die Zeilen verrutscht. Nikolai kauerte sich vor den Ofen und überflog die Seite.
Unser erster Brief scheint Sie nicht erreicht zu haben ...
Wir wissen, dass die Lage in Leningrad sich verschlechtert ... Wir haben mehrfach versucht, Sie telefonisch zu erreichen ... anscheinend funktioniert Ihre Leitung nicht mehr ... Wir möchten Ihnen erneut versichern, dass Ihre Tochter
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