Dirigent
kam ein weicher grauer Lappen zum Vorschein, und darin befand sich ein kleines Kohleporträt mit leicht eingerissenen Rändern.
Elias schnappte nach Luft. »Das ist ja Schostakowitsch!« Er musterte das Gesicht. »Aber er ist noch so jung darauf, fast ein Kind! Wo haben Sie das her?«
»Es ist von Kustodijew, ich war mit seiner Tochter befreundet. Nach seinem Tod bat mich Irina, es Schostakowitsch zu schenken, doch der wollte es nicht annehmen. Er sagte, er sei allergisch gegenüber Porträts von ihm.«
»Kustodijew?« Elias schaute auf die Signatur. »Einer der berühmtesten Künstler seiner Zeit. War er nicht schwer behindert?«
»Ja, er hat im Rollstuhl gemalt. Schostakowitsch und Irina waren Klassenkameraden, und manchmal ist er nach der Schule noch mit zu ihr gegangen, um für Kustodijew Klavier zu spielen. Dabei ist das Porträt entstanden.«
»Aber es ist doch bestimmt viel wert. Wenn Sie es nicht mehr haben wollen, sollten Sie es verkaufen.«
»Wenn ich es hätte verkaufen wollen, hätte ich es im Dezember getan, als ich fürchten musste, vor Hunger zu sterben. Nein, ich möchte, dass Sie es haben.«
»Aber warum – warum ich?«
»Schostakowitsch hat Irina mal erzählt, er habe viel von ihrem Vater gelernt. Er habe ihm beigebracht, unter allen Umständen weiterzukämpfen – und auch, dass die Arbeit einen manchmal retten kann. Ich dachte, Sie würden das besonders gut verstehen.«
Elias gefiel das Porträt so sehr, dass er kaum atmen konnte. »Schauen Sie! Schon in dem Alter hatte er diese ... diese Entschlossenheit .« Es stimmte: In dem beschmutzten jugendlichen Gesicht war schon die ganze Sturheit und Beharrlichkeit zu erkennen, und der trotzige Blick verriet, dass er von etwas getrieben wurde, was er nicht ganz unter Kontrolle hatte. »Vielen, vielen Dank«,sagte Elias und wickelte das Porträt sorgfältig wieder ein. »Ich werde es in Ehren halten.«
»Ich sollte jetzt gehen.« Nina stand auf. »Sie müssen doch todmüde sein.«
»Gehen Sie nicht!«, platzte Elias heraus. »Das heißt, vielleicht könnten wir –« Er holte tief Luft. »Vielleicht könnten wir ja zusammen gehen? Sie sind herzlich eingeladen, auf eine Tasse Tee mit zu mir zu kommen.«
Nina nickte. »Danke! Sehr gern.«
Als sie auf die Straße hinaustraten, sahen sie, dass die Wolken sich verzogen hatten und der Himmel türkis leuchtete. Sonnenstrahlen fielen schräg über die kaputten Hausdächer und warfen seltsame Schatten auf das nasse Pflaster. Wegen Ninas Bein und Elias’ Erschöpfung gingen sie langsam. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte Elias ab und zu.
Später konnte er sich nicht mehr erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Aber er erinnerte sich genau daran, wie er, wenn sie an Straßenecken oder Kreuzungen stehen blieben, aus dem Augenwinkel ihr klares Profil und den Schwung ihres Halses sah und sich fühlte, als wäre er schon zu Hause.
Es war sonderbar, seine Wohnungstür aufzuschließen und Nina hineinzugeleiten. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er so wenig Zeit hier verbracht. Weicher Staub lag auf jeder Fläche, und die Luft stand vor Trauer und Stille. Als er sich umsah, überkamen ihn die Erinnerungen und die Erschöpfung, und er begann am ganzen Körper zu zittern. Ganz vorsichtig legte er das Porträt auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen.
»Es tut mir leid«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich bin einfach so unglaublich müde.«
Selbst Teewasser aufzusetzen erschien ihm unmöglich. Er schaffte es gerade noch, zum schmalen Sofa zu wanken und sich hinzulegen. Nina deckte ihn zu und setztesich neben ihn. Nach einer Weile, als er aufgehört hatte zu zittern, legte sie sich neben ihn und strich ihm über das Haar.
Es dauerte lange, bis er aus der Dunkelheit wieder auftauchte und die Augen öffnete. Etwas verlegen und staunend stellte er fest, dass er irgendwie neben der wunderschönen Nina Bronnikowa auf dem Sofa gelandet war. Aber schließlich war das ganze Jahr ziemlich seltsam gewesen.
»Geht es dir besser?« Nina sprach leise und so ruhig, als wäre die Situation nicht weiter ungewöhnlich.
»Ein wenig«, sagte er und wandte ihr den Kopf zu. »Ich glaube, die heutige Probe war anstrengender, als ich erwartet hatte.« Er zögerte. »Glaubst du, Schostakowitsch würde mir vertrauen, wenn er gehört hätte, was ich da mache?«
»Schostakowitsch«, sagte Nina, »ist auch nur ein Mensch, der die Arbeit tut, für die er geboren wurde, so wie du die deine tust. Daran musst du
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