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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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ehrlich zu sein: Ein großer sinfonischer Dirigent wird Samossud nie.« Selbst der ehrwürdige Mrawinski geriet gelegentlich unter Beschuss, weil er zu viel Aufmerksamkeit auf Details verwendete und das große Ganze aus dem Blick verlor.
    Ja, ich weiß, was Sie von den anderen halten. Elias schaute unverwandt auf Schostakowitschs bevorzugten Platz. Und ich bin mir über Ihre Einstellung gegenüber Dirigenten vollständig im Klaren: Wir sind Handwerker und keine Künstler; Interpreten, die keine eigene Aussage zu machen haben. Ich erwarte keine Zustimmung von Ihnen – aber können Sie mir vielleicht sagen, wie Ihnen die heutige Aufführung gefallen hat? Was genau haben Sie gedacht?
    Der Saal dehnte sich schweigend um ihn aus. Das einzige Geräusch war das leise Knarren von Elias’ Sitz. Schostakowitsch blickte stur geradeaus, die widerspenstige Stirnlocke war ihm vor die Augen gesprungen. Er warsichtbar und hatte doch keine feste Substanz. Durch das Gewebe seiner Anzugsjacke schimmerte die rissige weiße Wand hindurch, und sein Hinterkopf verschwamm wie auf einer schlecht entwickelten Fotografie. Wenn Elias sich sehr konzentrierte, konnte er ihn etwas weniger transparent machen. Dann führte Schostakowitsch mit einer vertrauten Geste die Hand ans Kinn. Seine Lippen öffneten sich, und er war im Begriff, etwas zu sagen –
    »Karl Elias?«
    Er sprang auf und knallte mit dem Knie gegen den Sitz vor ihm. Es war Nina Bronnikowa, die sich ihm durch die Sitzreihe näherte.
    »Störe ich Sie?«, fragte sie. »Sind Sie noch bei der Arbeit?«
    Hatte er laut gesprochen, oder war seine Unterhaltung mit Schostakowitsch sicher in seiner Einbildung verwahrt? »Nein, nein, Arbeit kann man es nicht wirklich nennen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie vermi... Ich meine, Sie haben die Generalprobe verpasst. Sie war vor einer halben Stunde zu Ende.«
    »Nein, ich habe alles mit angehört. Ich habe ganz hinten gesessen, um Sie nicht abzulenken.«
    In dem dämmrigen Licht wirkte ihr Gesicht blasser denn je, und die dunklen Ringe unter ihren Augen unterstrichen ihre Zerbrechlichkeit. Sie trug einen Verband um das Handgelenk, ihre schwarze Jacke hatte Löcher, ihr verletztes Bein war dünn. Sie war wunderschön. Sie war vollkommen.
    »Wie fanden Sie es?«, fragte er beiläufig, aber seine Wangen glühten.
    »Es lief außerordentlich gut.« Sie setzte sich neben ihn. »Es lief fantastisch.«
    » Fantastisch würde ich nun nicht sagen. Wir haben unterwegs drei Minuten verloren. Aber für einen Haufen wiederverwendeter Musiker haben sie sich ganz gut geschlagen.«
    »Sagorski und die anderen waren beeindruckt. Sie haben davon gesprochen, Lautsprecher an der Front aufzustellen, damit jeder das Konzert hören kann – nicht nur unsere Soldaten, sondern auch die Deutschen. Damit sie erkennen, dass Leningrad unbesiegbar ist.«
    »Wirklich? Mein Gott, ich hoffe, wir werden der Herausforderung gerecht werden.« Er hielt inne, streckte die Hand aus, um sie am Arm zu berühren, zog sie wieder zurück. »Aber was macht Ihr Handgelenk? Ich hoffe, Sie haben nicht zu große Schmerzen.«
    »Es wird schon gehen. Es muss gehen! Ich möchte auf keinen Fall jemanden enttäuschen.«
    »Sie können niemanden enttäuschen.« Er sagte es prompt, ohne nachzudenken. »Am wenigsten mich.« Er errötete wieder, bereute seine Worte jedoch keine Sekunde.
    »Danke.« Nina sah ihn an. »Sie haben mir einmal gesagt, Sie seien nicht gut darin, Komplimente zu machen, wissen Sie noch? Aber wenn Sie so mit mir reden« – sie strich sich rasch mit der Hand über die Augen –, »dann fühle ich mich wie der glücklichste Mensch auf Erden.«
    Elias zog den Kopf ein und starrte auf seine Schuhe. »Oh, nein, der Glückliche bin ich. Weil ich ... weil ich Sie kenne.« Er sehnte sich danach, diesen hallenden Saal zu verlassen, mit ihr durch die Straßen zu gehen und von anderen Dingen als Sinfonien und Belagerungszuständen zu sprechen. Wäre es unangebracht, sie zum Tee zu sich nach Hause einzuladen?
    »Ich bin noch geblieben«, sagte sie und griff in ihre Tasche, »weil ich Ihnen das geben wollte.«
    »Oh, was ist das?« Er nahm das kleine flache Päckchen entgegen. »Ein G-g-geschenk? Für mich?«
    »Ich finde, dass Sie es haben sollten«, sagte Nina mit einem Lächeln.
    »V-v-vielen Dank! Ich weiß gar nicht, wann mir zuletzt jemand etwas geschenkt hat.« Aufgeregt begann Elias dasin schmutziges Zeitungspapier eingewickelte Päckchen auszuwickeln. Unter mehreren Lagen

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