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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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und von einem blutroten Abendhimmel verschluckt worden.
    Und als er nach Nina Bronnikowa schaute, war da nur das Klavier, still und zugeklappt wie ein Fenster mit geschlossenen Läden. Ein paar Tage zuvor hatte sich Ninadas Handgelenk überdehnt, und der Arzt hatte Elias gegenüber mehrfach betont, dass sie Ruhe brauchte. »Wenn sie gezwungen wird, bei der Generalprobe zu spielen, wird sie die Aufführung nie und nimmer durchstehen«, hatte er gewarnt, als wisse er, dass Elias’ Haltung, was das Konzert betraf, an Fanatismus grenzte. Trotzdem –
    Ich brauche sie hier , rief er im Stillen, während sein Taktstock durch die Luft sauste, um den Flöten und Oboen ein scharfes hohes C zu entlocken. Er spürte einen Anflug von Panik. Er war so allein! Als Einzelner so viele zu führen – er wusste nicht, ob er die Kraft dazu hatte. Und was für ein weiter Weg vor ihm lag. Ihm wurde schwach, wenn er an die Hunderte von Seiten dachte, die es noch zu spielen galt.
    Es gab stümperhafte Einsätze und ein paar verpatzte Soli. An einem Punkt wurde Wedernikow blass und sank auf seinen Stuhl, und die Töne aus seiner Flöte wurden flatterig und leise. Doch die Musik hatte ihre eigene Dynamik und rollte wie ein großer Stein einen Abhang hinunter. Elias blieb nur, sie zu lenken, sie zurückzuhalten, am Eilen zu hindern. Er sah Petrow an und formte mit den Lippen das Wort: Langsamer! Wundersamerweise verstand Petrow seine Anweisung und folgte ihr, das ganze Orchester mit abbremsend, und so marschierte der lange erste Satz in seiner unerbittlichen Bedrohlichkeit weiter bis zum Ende.
    Hinter Elias schien sich die Luft zu regen, doch er hörte kein Geräusch. Hatte die Kraft der Musik seine Zuhörer bewegt? Unmöglich zu sagen, doch als er den Auftakt zum trällernden zweiten Satz gab, fiel ihm eine Last von den Schultern. Die Sinfonie hat ihr Eigenleben , rief er sich ins Gedächtnis. Du musst sie nicht allein tragen.
    Dann, nach nur einer Sekunde Pause, ging das Orchester sanft zum Adagio über und spielte die Echophrasen so elegisch und schön, dass Elias, der sie in- und auswendig kannte, ein Schauer über den Rücken lief.
    Schließlich – er gab dem Trommler ein Zeichen – begann das Geratter des kriegsähnlichen vierten Satzes. » Non troppo! «, formten Elias’ Lippen. » Allegro non troppo! « Dies war der Satz, der ihm so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte – militärische Fanfaren von einer dezimierten Blechbläsergruppe, schnelle, präzise Pizzicati von unerfahrenen Streichern –, und nun wünschte er plötzlich, die Tortur würde gar nicht mehr enden. Doch sie waren schon fast am Schluss angelangt, drängten bereits in die C-Dur-Coda hinein, die beachtlich laut klang. Die tosenden Holzbläser, die unisono hämmernden Streicher, die stampfenden Trommel-Duolen – dann ein ausgedehnter Moment der Stille und die Erlösung.
    Woher hatte er die Kraft genommen? Es schien, als wäre ihm die Energie aller Komponisten eingeflößt worden, deren Musik je durch diesen Saal geschallt war. Borodin, Mussorgski, Rimski-Korsakow, Scrjabin, Strawinsky, Glasunow – ganz zu schweigen von all den Dirigenten, die an diesem Pult gestanden hatten wie einsame Männer vor dem Erschießungskommando. Mrawinski, der mit Schostakowitschs Fünfter Beifallsstürme entfesselt hatte; und fast fünfzig Jahre früher Tschaikowski, der hier neun Jahre vor seinem Tod mit seiner eigenen Sechsten Sinfonie aufgetreten war. All diese rastlosen, klugen, selbstgefälligen Männer waren hinter Elias aufgereiht – doch sie stellten keine Bedrohung mehr für ihn dar. Er ließ den Kopf locker hängen, der Schweiß strömte ihm von der Stirn. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er Schulter an Schulter mit diesen Männern, anstatt ihnen die Stirn bieten zu müssen.
    In seiner Euphorie und Erschöpfung nahm er alles nur verschwommen wahr. Er merkte, dass Babuschkin ihm auf die Schulter klopfte und »recht ordentlich« murmelte und dass Sagorski und seine Assistenten mit leicht arroganter Anerkennung Phrasen wie »so sollte es klappen« droschen. Dann beobachtete er den sonderbaren Prozessder Auflösung eines Orchesters – ein vereintes Ganzes, das wieder in lauter einzelne Musiker zerfällt. Er sank auf einen Stuhl und verkündete, in den kommenden zwei Tagen würde keine Probe stattfinden. Sie brauchten am folgenden Morgen nur ein kurzes Treffen abzuhalten, um die Sinfonie durchzusprechen – trotz der offiziellen Zustimmung sei nicht alles akzeptabel gewesen

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