Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
–, ansonsten jedoch sollten die Musiker sich ausruhen, so gut sie konnten.
    »Angesichts der recht außergewöhnlichen Umstände«, sagte er, »wird nicht von Ihnen erwartet, dass Sie in Smoking oder Abendgarderobe spielen – auch wenn es Sie womöglich freut, zu hören, dass ich die Öffentlichkeit nicht mit diesem hinreißenden Aufzug zu beglücken gedenke.« Er blickte an sich hinab – sowohl der Wollpullover als auch seine Hose waren löchrig. »Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe noch immer einen Smoking, der mehrfach davon verschont geblieben ist, als Brennstoff oder Fußlappen verwendet zu werden, hauptsächlich weil er für beides nicht taugt.« Er erntete leises Gelächter. »Zwei letzte Dinge«, fügte er hinzu. »Erstens hat man mir versichert, dass wir bei der Aufführung elektrisches Licht haben werden. Und zweitens hat Genosse Shdanow verkündet, es werde nach dem Konzert ein Bankett geben.« Er machte eine Pause, in der er seinen Gürtel ein Loch enger schnallte. »Also sehen Sie zu, dass Sie sich nicht schon vorher den Bauch vollschlagen.« Auch darüber lachte das Orchester.
    Als er allein war, ging er in den Zuschauerraum und setzte sich in die Mitte der fünften Reihe. Sein Körper schmerzte, als hätte ihn eine ganze Straßenbande überfallen, ihn getreten und geschlagen. Er blickte auf seine Hände. Zehn lange Jahre des Dirigierens: War das ganze vergangene Jahrzehnt eine Vorbereitung auf diese eine Woche gewesen? Oder würden er und seine Flickwerktruppe in Vergessenheit geraten, sobald die Deutschenvertrieben worden waren? Würde man sich an ihre Leistung erinnern, falls – er ballte die Fäuste und korrigierte sich –, wenn Leningrad befreit war? Wenn die Elite in die Stadt zurückkehrte und die Bühne der Philharmonie sich wieder mit ihren eigentlichen Helden füllte, jenen eleganten Profimusikern, die von Russlands vornehmsten Akademien kamen und perfekt restaurierte Instrumente aus dem achtzehnten Jahrhundert spielten?
    Mit der Wirkung des Adrenalins ließ auch seine euphorische Erleichterung nach. Die Sinfonie in Gänze zu spielen war zweifellos eine Leistung, doch die Darbietung war alles andere als vollkommen gewesen – das begann schon damit, dass die Zeiteinteilung nicht gestimmt hatte. Er sah noch einmal auf seine Armbanduhr. Dreiundsiebzig Minuten . Wo hatten sie die Zeit verloren? Vielleicht im dritten Satz, in der letzten Wiederaufnahme des Hauptthemas: Die Bratschen hatten schwer und schleppend geklungen. Oder womöglich in der Pizzicato-Passage im vierten Satz, die überartikuliert und nicht fieberhaft genug gewesen war. Drei Minuten zu langsam . Sollte er morgen doch noch eine Teilprobe ansetzen?
    Nikolai würde natürlich darüber lachen. »Drei Minuten? Zwanzig Minuten sind grobe Nachlässigkeit, drei Minuten künstlerische Freiheit.« Doch Elias wusste genau, wie lang jeder Satz sein sollte, denn Schostakowitsch hatte die Zeiteinteilung in einem Brief an Nikolai exakt angegeben. Er hatte nicht geschrieben, der erste Satz dauere »in etwa« fünfundzwanzig Minuten oder das Scherzo »ungefähr« acht. Wenn es um seine Arbeit ging, benutzte Schostakowitsch absolute Werte, eine Sprache, die Elias genau verstand. Er hatte die in Schostakowitschs eigener Handschrift notierten Ziffern säuberlich in sein Arbeitsbuch übertragen. Und als er den Befehl erhielt, die Sinfonie zu dirigieren, hatte er die viersätzige Zeiteinteilung schon im Kopf.
    Stirnrunzelnd blickte er die leere Reihe entlang. Erstellte sich vor, Schostakowitsch säße ein paar Plätze weiter, die Lippen geschürzt, die Brauen zusammengezogen. Was hätte er über die heutige Vorstellung gesagt? Er hielt sich mit seiner Meinung nie zurück, auch gegenüber den besten und international bekanntesten Dirigenten nicht. Toscanini? Ein blasierter Tyrann mit den schlampigen Arbeitsgewohnheiten eines Kurzsichtigen! Obwohl er das Fliegen hasste, würde Schostakowitsch nach Amerika reisen, um ihn daran zu hindern, eine weitere seiner Sinfonien zu verhunzen. Leopold Stokowski wiederum fand er relativ begabt, seine freihändige Technik recht wirkungsvoll, und Sinfonie Eins, Drei und Sechs hatte er seiner Meinung nach ganz anständig hinbekommen – doch um Schostakowitschs volles Vertrauen zu verdienen, gefiel er sich ein bisschen zu sehr in theatralischen Kunststücken. Näher der Heimat war es kaum anders. »Ich bewundere jeden, der das Bolschoi-Theater leiten kann«, hatte Schostakowitsch angeblich gesagt, »aber um

Weitere Kostenlose Bücher