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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Das sind nur ein paar Stunden mit dem Zug. Sie sagt, wir sollen auch kommen, denn wenn Gäste da sind, streiten Herr und Frau Schostakowitsch sich nicht so viel. Sie sagt –«
    »Sonja«, unterbrach Nikolai sie. »Du darfst nicht alles nachplappern, was andere sagen. Das kann sehr peinlich sein.«
    »Aber sie sind doch gar nicht hier! Ich würde es ihnen ja nicht ins Gesicht sagen. Ein bisschen Vertrauen, por favor !«
    Letzteres war eine Lieblingswendung von Sollertinski; Nikolai hörte den satten, satirischen Ton in Sonjas vogelgleicher Stimme. »Komm, wir kaufen uns ein Eis«, sagte er und steuerte auf den Kiosk zu.
    Als sie beim Kulturhaus ankamen, war die Mittagssonne hoch über ihre Köpfe gerollt, und die Steingebäude ragten bleich in den blauen Himmel. Aus der Richtung der Achterbahn waren Jauchzer und Schreie zu hören. Nikolai wünschte, er hätte nicht den größten Teil von Sonjas Erdbeereis gegessen; ihm drehte sich schon im Voraus der Magen um.
    »Zweimal, bitte.« Sonja machte sich vor der Kasse so lang wie möglich und zählte ihr Geburtstagsgeld ab, das sie für diesen Anlass gespart hatte. »Willst du auch wirklich mitfahren?«, fragte sie Nikolai, auf dem Ende ihres langen dunklen Zopfes kauend.
    »Ja«, sagte Nikolai und holte verstohlen tief Luft.
    Sobald sie angeschnallt im Wagen saßen, konzentrierte er sich auf die Haushaltskosten: das langweiligste Thema, das ihm einfiel, und die einzige Möglichkeit, seine Todesangst zu bekämpfen. Der Mann am Schalter rief etwas, während Nikolai die Augen schloss und zu zählen begann. Dreißig Rubel zusätzlich für Tanja diesen Monat, dafür dass sie auf Sonja aufgepasst hatte, während er sichdurch haarsträubende studentische Orchestrierungen von Mussorgski mühte –
    Der Wagen ruckte, und er riss die Augen auf. Sie hatten fast den Gipfel vor der ersten Talfahrt erreicht, und er sah die Bahn achtlos vor sie hingeworfen wie Münzen aus der Hand eines betrunkenen Spielers. Münzen , dachte er verzweifelt und machte die Augen wieder zu. Kopeken, Rubel. Dreißig Rubel für Tanja. Hundert Rubel für Sonjas neue Wintersachen –
    »Warum hast du die Augen zu?« Sonjas Stimme drang durch das Geklimper in seinem Kopf.
    Er öffnete ein Auge und sah sie von der Seite an. »Ich rechne bloß gerade was im Kopf.« Das kam der Wahrheit ziemlich nahe.
    »Papa!« Ihre Stimme wurde lauter. »Das soll Spaß machen!« Der Wagen stand kurz still, bevor es bergab ging; Wind wisperte in Nikolais Ohren, Stimmen stiegen vom Boden zu ihm herauf, und die Schreie derer, die vor ihnen talwärts sausten, drangen an sein Ohr. Sah so der Moment vollkommener Klarheit aus, bevor man vor ein Erschießungskommando trat?
    Plötzlich fielen sie, schreiend, kreischend, ins Nichts. Sonjas Zopf flog hinter ihnen her, Nikolai strömten die Tränen aus den Augen. Als sie durch die Talsohle ratterten und die nächste Steigung erklommen, war er erleichtert, dass er wenigstens nichts gesehen hatte.
    Sonjas Hand stahl sich in seine. »Das war lustig, oder? Gleich geht’s weiter, bist du bereit?«
    »Natürlich!« Nikolai wischte sich die Handflächen an der Hose ab und lächelte verkrampft.
    Nachdem sie, dank Sonjas Geburtstagsgeld, noch mehr Eis gegessen hatten und danach Schnitzel – »falsche Reihenfolge, aber wen kümmert’s«, sagte Nikolai –, verließen sie den überfüllten Newski-Prospekt und schlenderten durch die schmalen Hintergassen nach Hause. Wegen der Hitze standen viele Fenster offen, und zottelige Kater lagenmit Abstand voneinander da, zu matt, um sich anzufauchen oder zu zanken.
    »Puh«, sagte Sonja, als sie vor ihrer Haustür angekommen waren. »Das war vielleicht ein Tag.«
    »Vielen Dank für die Einladung.« Nikolai schloss die Haustür auf und spürte den kühlen Atem der Diele auf seinem Gesicht.
    »Bitte sehr«, sagte Sonja förmlich.
    Tante Tanja hatte ihre täglichen Aufgaben schon erledigt und war nach Hause gegangen, aber das Cello erwartete sie; es lehnte am Sofa, als wäre es der Hitze genauso ausgeliefert wie sie.
    »Ich habe heute noch nicht geübt.« Sonja klang schuldbewusst.
    »Betrachte es als Ruhetag«, sagte Nikolai. »Selbst Profimusiker nehmen hier und da mal einen Tag frei.«
    »Hat Mama das auch gemacht?« Sonja richtete das Cello auf, und die C-Saite gab ein tiefes, sanftes Doing von sich.
    »Ja, sogar Mama! Allerdings nicht oft, das gebe ich zu.« An manchen Tagen hatte er ihre Hand vom Bogen nehmen müssen, an anderen hatte sie so lange

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