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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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leckte er am Blatt seiner Oboe. »Ich will Sie nicht neidisch machen. Wirklich, es tut mir leid, dass mein Fleisch so viel schwächer ist als Ihres und mein Leben so viel interessanter.«
    Elias senkte den Blick auf die Partitur. Die Noten verschwammen zu einer schwarzen Masse, und ihm wurde schwindelig. »Es ist mir einerlei, wie viel Sie getrunken haben noch wie viele halbwüchsige Huren Sie im Namen der Mittsommernachtsfeierei in Ihrem Bett hatten. Was Sie in Ihrer freien Zeit machen, ist Ihre Sache, aber für die Proben gilt das keineswegs. Wenn in Leningrad nicht ein äußerster Mangel an Oboisten herrschte, würde ich Sie auf der Stelle vor die Tür setzen, weil Sie den Anforderungen nicht genügen.«
    Alexander wurde rot um die Nasenflügel und richtete sich auf. »Ich bin der Beste«, zischte er. »Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?«
    Beide Hände hinter dem Rücken, stach Elias sich mit der Spitze seines Taktstocks in die linke Handfläche. »Sie sind nicht der Beste.« Seine Stimme war wie eine Peitsche; er wollte so viel Schmerz bereiten, wie er selbst empfand, und bohrte sich den Stab noch tiefer in die Hand. »Keiner von Ihnen ist der Beste«, sagte er und blickte hasserfüllt in die Runde. »Sie sind allesamt die Zweitbesten. Wenn es anders wäre, würden Sie bei Mrawinski spielen. Dies ist ein Orchester von Verlierern, mich selbst eingeschlossen. Wir sind nichts als Zweitbesetzungen, Ersatzspieler,die auf der Bank des Lebens hocken und hoffen, irgendwann mitmachen zu dürfen. Bis dahin verunstalten wir die Musik, der wir unseren Lebensunterhalt verdanken! Wir töten die Musik, die wir eigentlich lieben sollen!« Er hielt inne, weil Petrow, der alte Konzertmeister, eine winzige Bewegung machte. Als er hinunterblickte, sah er helle Blutstropfen auf den zerschrammten Boden fallen.
    »Sie können jetzt alle gehen. Wer am Montag zu spät kommt, ist ein für alle Mal entlassen.« Er stand stocksteif da, die Hände hinter dem Rücken, und sah den Musikern nach, die zur Tür hinausschlurften. Niemand würdigte ihn eines Blickes.
    Nur Alexander blieb kurz stehen, nah genug vor ihm, dass Elias den Schweiß auf seinen schweren Lidern sehen konnte. »Sie können uns nicht rausschmeißen.« Seine Haut dünstete Wodka aus. »Sie sind für die Einstellungen gar nicht zuständig; Sie haben ja noch nicht mal die Macht, das Repertoire auszuwählen. Alle wissen, dass Sie für das Komitee nur eine Marionette sind.«
    Elias hätte ihn am liebsten geschlagen, ihm die höhnische, arrogante Nase zertrümmert. Einen Moment lang verschwand Alexanders Gesicht hinter Strömen von Blut, die Augen dunkelrote Schlitze, die Wangenknochen gebrochen, die Zähne zersplittert. »Sie machen sich lächerlich.« Elias wandte verächtlich den Blick ab. »Sie sind bloß ein Fisch.«
    »Ein was?« Alexander taumelte. »Ein Fisch ?«
    »Sie haben mich schon verstanden. Sie sind ein großer Fisch in einem kleinen Teich. Oboist in einem zweitklassigen Orchester in einer kalten, sumpfigen Stadt, die der Rest der Welt vergessen hat. Niemand wird sich an Sie erinnern oder Ihnen dafür danken, was Sie getan haben. Glauben Sie, wir sind diejenigen, die Geschichte schreiben? Wir sind bloß Nummern. Diese Männer –« Er klatschte mit der Hand auf die Partitur und verschmierte Blut auf der Seite. »Sie sind es, von denen man noch sprechenwird, wenn Ihre Knochen längst unter der Erde liegen. Tschaikowski, Sibelius, Prokofjew, Schostakowitsch – sie wird man verehren für das, was sie der Welt gegeben haben. Ihr Schweiß dagegen, Ihr schmerzender Rücken, die Blasen an Ihren Fingern: Glauben Sie, irgendjemand interessiert sich dafür? Sie sind kein Gott, Alexander, wie sehr Sie auch umherstolzieren und sich brüsten mögen. Niemand wird an Ihren Altar pilgern. Sie werden sterben, wie sie geboren sind: als mittelmäßiger Musiker und Arschloch erster Güte. Darin immerhin ragen Sie aus der Masse hervor.«
    Scheppernd fiel Alexanders Dämpfer zu Boden, und während Elias beobachtete, wie der Oboist auf allen vieren herumkroch, verspürte er einen Ekel, als faulten ihm die Eingeweide im Leib. Wenn ich dir doch bloß das Maul stopfen könnte , dachte er und wickelte sich das Taschentuch fest um die blutende Hand. Wenn ich dir doch mitten in deinen Tiraden den Dämpfer so tief in den Rachen schieben könnte, dass du daran erstickst.
    Er sagte nichts weiter, als er die Gestalt des Oboisten wie aus großer Entfernung aufstehen und fortgehen sah.

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