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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Eliasberg!« Schostakowitsch nahm seine Brille ab und wischte sich über die Augen. »Eliasberg, der Rundfunkmaestro!« Er bückte sich und zupfte an einem Notenblatt, das unter den Stiefel einer stämmigen Frau an der Straßenbahnhaltestelle geraten war. »Wenn ich bitten darf! Geben Sie die Noten eines der größten Komponisten der Welt frei. Sein Werk gehört eindeutig nicht unter Ihren Absatz.« Er wischte den staubigen Schuhabdruck von der Seite und reichte Elias einen unordentlichen Packen Papier. »Hier. Ich hoffe, das ist eine ganze Sinfonie.«
    Elias nahm den zerfledderten Stoß an sich und versuchte zu sprechen, doch seine Zunge versagte ihm den Dienst.
    Schostakowitsch hustete. »Ich bin ziemlich in Eile, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Ich will nur schnell ein paar Tickets abholen, die Nikolai Nikolajew für mich dagelassen hat.«
    »Nikolai –«, stotterte Elias und warf einen Blick über die Schulter. »Er ist nicht mehr – das heißt, ich war der Letzte –«
    »Ja, ja«, unterbrach Schostakowitsch ihn leicht ungeduldig. »Aber er hatte hier vorhin eine Aufnahme. Ich hoffe – ohne es im Ernst zu erwarten, denn Nikolais Gedächtnis ist so neblig wie ein Märzmorgen –, dass er darangedacht hat, meine Tickets beim Pförtner zu hinterlegen. Morgen ist ein ausgesprochen wichtiges Spiel. Und wenn ich es versäume, ärgere ich mich schwarz.«
    »Sp-sp-spiel?« Elias hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.
    »Fußball natürlich.« Schostakowitsch sah zu den glitzernden Fenstern hinauf. »Nicht nur ein Spiel, sondern zwei.« Beunruhigend schnell wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Elias zu. »Sie wollen nicht vielleicht mitkommen? Zenit spielt gegen Lokomotive Moskau. Sie haben Dementijew von Dynamo verpflichtet, und der ist in Topform!«
    »Das wird schw-schwierig«, sagte Elias.
    »Schwierig? Das Spiel ist hier in Leningrad! Höchstens eine halbe Stunde Fahrt.«
    »Es ist wegen meiner Mutter. Sie ist Halbinvalide. Das kann lästig sein, nur – als ihr einziger Sohn –«
    »Aber Sie sind doch hoffentlich für Zenit, oder?«
    »Sicher«, sagte Elias mit unsicherer Stimme. »Das heißt, ich verstehe nicht viel von Sport, aber wenn ich für irgendjemanden wäre, dann für Zenit. Wenn ich es je schaffen würde, zu einem Spiel zu gehen, wäre ich der größte Fan von Dement... Dementi... von diesem Mann.«
    Schostakowitsch nickte. »Die Zeniter sind die Besten. Einmal, als meine Frau verreist war, habe ich die ganze Mannschaft zu mir nach Hause zum Essen eingeladen. Es war ein grandioser Abend. Einer von ihnen konnte sogar Gitarre spielen.«
    »Ach ja?« Elias brachte ein kleines Lachen zustande. »Beachtlich!« Er zitterte leicht. Dies war vielleicht seine einzige Chance, jemals so persönlich mit Schostakowitsch zu sprechen; er musste sie beim Schopf packen, auch wenn es ihm so riskant vorkam, wie seine Hand ins Feuer zu halten. »Darf ich Ihnen etwas sagen, das mir schon lange unter den Nägeln brennt? Ich möchte Ihnen s-s-s –« Doch auf einmal verkrampfte sich seine Zunge vollends,und er war wieder elf Jahre alt und stand vor seinem Vater, der ihn ausschimpfte, weil er stotterte wie ein Idiot.
    Schostakowitsch schnäuzte sich, als wollte er Elias Zeit geben, sich zu fangen. Die Sekunden zogen sich in die Länge. »Sie wollten mir etwas sagen?«
    »N-n-nur d-d-dass –« Er biss sich auf die Wangen; Blut rann ihm in den Mund. »Ihr Quintett! Die Kraft Ihres Quintetts. Die Schönheit! In einer so strengen Form so viel Leidenschaft einzufangen! Das grenzt an ein Wunder.«
    »Oh! Vielen Dank! Ich danke Ihnen wirklich sehr für dieses Lob.« Schostakowitsch neigte den Kopf – vielleicht vor Freude? –, doch es klang eher, als wünschte er sich an einen anderen Ort.
    Nun, da seine Zunge wieder funktionierte, konnte Elias sich nicht mehr bremsen. »Ihr Konzert in Moskau war fabelhaft. Ich bin über Nacht dorthin gereist, nur um Sie zu hören. Was für ein Vortrag! Sie hatten so lange nicht mehr Klavier gespielt, schon gar nicht eins Ihrer eigenen Werke, aber niemand kann es mit Ihnen aufnehmen. Weder Lew Oborin noch Swjatoslaw Richter! Selbst wenn sie Ewigkeiten üben oder mit den Noten unter dem Kissen schlafen würden, könnten sie die Noten nicht so gut kennen wie Sie. Von meinem Platz aus schien es, als strömten die Töne spontan aus Ihrem Innersten hervor.« Außer Atem hielt er inne und empfand ungeheure Erleichterung.
    Was hatte er in Schostakowitschs Gesicht zu sehen erwartet?

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