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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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An der Tür stolperte Alexander, spuckte aus und verschwand.
    Elias blickte auf die längliche blasenwerfende Pfütze, die wie ein bösartiger lebender Organismus wirkte. Mit seinem blutbefleckten Taschentuch wischte er sie auf und warf das ruinierte Stück Stoff in den Abfalleimer neben der Tür.
    In der Garderobe traf er nur noch den alten Petrow an, der kerzengerade auf einem Stuhl saß und sich mit den Fingern durch den spärlichen Bart strich. Elias nickte ihm zu und machte sich daran, seine Sachen einzupacken. Seine Hände zitterten so stark, dass es ihm nicht gelang, den Stoß loser Partiturseiten ordentlich in seiner Aktentasche zu verstauen.
    »Ich habe gehört, was Sie zur ersten Oboe gesagt haben«,begann Petrow schließlich. So sprach er immer von den anderen Musikern – drittes Cello, fünfter Bass –, als könne er dadurch Kontrolle ausüben wenn nicht über die Personen selbst, so doch über seine eigene emotionale Reaktion auf sie.
    »Ja?« Elias kämpfte weiter mit der Partitur.
    »Ich habe an der Tür gelauscht«, gab Petrow zu. »Manchmal muss ein Konzertmeister wissen, was los ist. Aus professionellen Gründen.«
    »Mag sein. Aber ich fürchte, dieses Problem ist eher persönlicher als professioneller Natur.«
    »Da haben Sie recht. Die Oboe ärgert sich über Ihre Pedanterie. Und wie.«
    Elias lachte kurz auf.
    »Oder über Ihre Genauigkeit«, sagte Petrow. »Die Oboe wird nicht gern mit Details behelligt. Aber ob er Sie nun mag oder nicht – das Zepter haben Sie in der Hand. Und ich finde es richtig, was Sie zu ihm gesagt haben.«
    »Es ist so absurd!« Elias ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Tag für Tag muss er seine Kämpfe mit mir ausfechten, während die halbe Welt in einen richtigen Krieg verwickelt ist. Mütter schicken ihre Söhne ins Feld, Panzer zermalmen Körper im Schlamm – wer weiß, wie das enden wird? Hauptsache, Alexanders kostbares Leningrad ist in Sicherheit, Hauptsache, er kann durch die Straßen stolzieren und zum halben Preis Straßenbahn fahren und sich an der Kinokasse vordrängeln, weil jeder seine füchsische Visage kennt – dann ist Alexander glücklich!«
    »Vielleicht nicht mehr lange.« Eine kleine Träne lief Petrow über die Wange; seine Augen waren rot und entzündet. »Besser, man ist auf das Schlimmste gefasst, als plötzlich geschubst und in einen Minenschacht gestoßen zu werden, wenn man es am wenigsten erwartet. Sie scheinen mir immerhin jemand zu sein, der die Schattenseite der Straße nie gemieden hat.« Seine Hand wanderte zu seiner Jackentasche. »Trinken Sie einen Schluck mit?«
    »Nein, danke. Tagsüber nie.«
    »Sehr vernünftig.« Petrow trank aus dem Flachmann und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Jeder sollte sich selbst ein paar Regeln setzen. Wenn man sie dann bricht, kommt es einem wenigstens wie ein besonderer Anlass vor.« Er stemmte sich hoch. »Falls es Sie tröstet – alle Welt weiß, warum die erste Oboe im Moment so unleidlich ist, auch wenn das nichts entschuldigt.«
    »Das liegt doch auf der Hand.« Elias zuckte mit den Schultern. »Alexander hasst mich. Er hat mich von Anfang an gehasst, und er wird mich bis ans Grab hassen.«
    Petrow sah überrascht aus, und seine dünnen Arme hoben sich leicht vom Körper. »Ich dachte, Sie wüssten Bescheid! Er ist in die zweite Flöte verliebt, deshalb stolziert er wie ein wilder Hahn durch die Gegend. Wenn sie ihn erst umgarnt, wird er zum reinsten Gockel werden. Warten Sie’s ab.«
    Als er endlich allein war, legte Elias den Kopf auf die rissige Tischplatte und weinte. Seine Tränen rührten nicht wie die Petrows von der mangelhaften Ernährung und dem Lesen schlecht kopierter Partituren bei trübem Licht her: Es waren Tränen der Erschöpfung und Tränen einer Einsamkeit, die tiefer war als ein Brunnen. Ich bin fast vierzig Jahre alt, dachte er verzweifelt, und habe noch kein Glück gekannt. Ich bin fast vierzig Jahre alt und habe noch nie geliebt.
    Als er den Kopf hob, war das buttrige Licht über die Wand gewandert: Wie viel Zeit hatte er mit Selbstmitleid vergeudet? Er griff nach seinem Taschentuch, bis ihm einfiel, dass es, mit seinem Blut und der Spucke eines anderen beschmutzt, im Abfalleimer lag. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. »Idiot. Dummkopf. Flennst hier wie eine Frau.«
    Sein Vater hatte nie geweint – zumindest nicht vor Elias. Vielleicht ließ sich so das Schuldgefühl erklären, das so schwer auf ihm lastete? Er starrte sein eigenes

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