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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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worden war. »Gerade mal sechzehn!«, schnappte er auf. »Könnte seine Enkelin sein.« Lachsalven ertönten, dazu das schrille Auf und Ab einer Klarinettenpassage, die nichts mit dem zu tun hatte, was sie gerade einstudierten.
    »Ich hoffe, Sie sind wohlauf?«, fragte er in die Mengehinein. Seine Stimme klang übertrieben vorsichtig, und er verachtete sich dafür. Wenn Mrawinski einen Probenraum betrat, wurde es angeblich mit einem Schlag still.
    »Wir beginnen mit dem zweiten Satz«, sagte und klopfte mehrmals hintereinander gegen seinen Notenständer, bis er ein meuterisches Schweigen hergestellt hatte. Doch selbst als die Musiker zu spielen anfingen, war er nicht ganz Herr der Lage. Er hatte sein Jackett anbehalten, um sich stärker zu fühlen, mehr Autorität auszustrahlen, doch das war ein Fehler. Wann immer er die Arme hob oder senkte, liefen ihm Schweißtropfen an den Armen herunter wie Mäuse.
    Draußen rumpelten die Straßenbahnen vorbei und ließen den Boden beben: eine Erinnerung, dass ganz Leningrad auf Wasserwegen und instabilem Marschland erbaut war. Das Orchester klang ähnlich instabil, hinkte eine viertel, manchmal sogar eine halbe Zählzeit hinterher. Schon bald zitterten Elias’ Arme vor Anstrengung.
    »Frischere Artikulation!«, forderte er. »Lassen Sie es extrovertierter klingen.« Wenn er schluckte, schmeckte er das Spiegelei, das er zum Frühstück gegessen hatte, gemischt mit der bitteren Galle seiner Unsicherheit. »Konzentrieren Sie sich!«
    Doch die Augen der Musiker blieben auf die Noten geheftet. Die Streicher verwandelten die Melodien in einen Einheitsbrei, die Blechbläser klangen grob, die Holzbläser schrill wie eine Ehefrau, die ihren Mann schon lange nicht mehr liebt.
    Schließlich brach Elias ab und ging ans Klavier. »In Takt einhundertunddreizehn müssen Sie schneller werden. Oder haben Sie kollektiv das Gedächtnis verloren und wissen nicht mehr, was poco più mosso heißt?« Er setzte das Metronom in Gang und spielte die Melodie mit der rechten Hand. »Hören Sie? Mehr wie ein Tanz, nicht wie ein verdammter Trauermarsch.« Er hielt das Metronom an und kehrte zum Pult zurück. Unten auf der Straße fingein Hund an zu bellen und bellte gegen den Takt weiter. In der Gruppe der Streicher brach Gelächter aus, das sich rasch ausbreitete.
    Wenigstens konnte er dankbar sein, dass kein Dritter diesem Debakel beiwohnte. »Wir setzen noch einmal bei dem Oboensolo ein.« Elias versuchte, forsch zu klingen. »Takt einhundertundsechzig, bitte.«
    Die Streicher fingen einigermaßen folgsam an zu spielen und brachten eine stümperhafte Begleitung zustande. Doch von den Holzbläsern – nichts. Elias warf einen Blick in die Partitur, halb in der Hoffnung, der Fehler liege vielleicht bei ihm. Höhnisch ballten sich die Noten auf den Linien zusammen, doch es kam kein entsprechender Klang. Die Bratschen und Celli sägten weiter vor sich hin, abzüglich eines Solisten.
    Jetzt schien mehr denn je der Boden unter seinen Füßen zu wanken. Er packte die Seiten seines Notenständers, um sich festzuhalten. »Um Himmels willen, aufhören!«, rief er so laut, dass das Orchester augenblicklich verstummte. Zum ersten Mal an diesem Tag trat wirklich Stille ein, gespannt wie eine große Seifenblase – und genauso fragil.
    Elias wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und zwang sich aufzublicken.
    Er konnte kaum glauben, was er sah. Alexander saß weit zurückgelehnt mit geschlossenen Augen da, die Oboe quer über der Brust, das Becken in einer halb unverschämten, halb gleichgültigen Geste zur Decke geneigt.
    »Sie da!« Elias hatte noch nie mit solchem Zorn gesprochen. Die anderen Musiker richteten sich auf.
    Langsam, demonstrativ öffnete Alexander die Augen.
    »Sie haben absichtlich Ihren Einsatz verpasst.« Elias versuchte das Zittern in seinen Beinen zu ignorieren. »Hätten Sie wohl die Güte, uns mit Ihrer Genialität zu beehren, oder soll ich Ihr Solo einem engagierteren Musiker geben?«
    Alexander winkte gelangweilt ab. Sein sommersprossiges Gesicht war blass, und seine Wimpern waren vor den geröteten Lidern kaum zu sehen. »Ich habe einen Kater. Schließlich haben wir Sonnenwende, und ich feiere gern. Wer Freunde hat, feiert in der Mittsommernacht, und wer keine hat –« Er machte eine theatralische Pause. »Egal, jedenfalls habe ich heute Morgen andere Dinge im Kopf als trockene professionelle Belange. Gestern Abend hatte ich Wein in meinen Adern. Und in meinem Bett ...« Lasziv

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