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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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spitzte die Ohren wie ein Jagdhund. »Studiert dieser Engel am Konservatorium?«
    »Dafür ist er noch ein bisschen zu jung«, sagte Nikolai.
    »Genauso wie für dich , Sollertinski«, fügte Schostakowitsch hinzu.
    »Wir reden von meiner Tochter«, sagte Nikolai. »Der Anlass für die Feier war ihr neunter Geburtstag.«
    »Sie sind ein Spielverderber, Nikolai«, sagte Schostakowitsch, während er schnellen Schrittes durch die Marmorhalle ging. »Sollertinski hatte schon neue Beute gewittert.«
    »Bitte.« Sollertinski sah gekränkt aus. »Ich bin ein verheirateter Mann mit zwei Kindern.«
    »Wenn das so ist«, sagte Schostakowitsch, »frage ich mich, warum du eigentlich nie nach Hause musst, um Gutenachtgeschichten vorzulesen? Sieh mich an, ich renne gleich zur Straßenbahn, werde sie aber verpassen und neben ihr hersprinten, wie ich es schon als Jugendlicher getan habe, weil ich zu schwach bin, um mich in einen überfüllten Waggon zu quetschen, und natürlich trotz der Rennerei zu spät kommen, Maxim wird schon im Bett liegen, Nina wütend sein, ich werde mit den Türen knallen, bis Maxim weint, und mich fragen, warum in Gottes Namen mein verheirateter Freund Iwan Sollertinski nie ein derartiges Szenario durchleiden muss.«
    Sollertinski zuckte vielsagend mit den Schultern. »Als sie mich kennenlernte, hat meine Frau gespürt, dass ich über exzellente Gene verfüge. Zumindest in dieser Hinsichthabe ich sie nicht enttäuscht. Was soll ich sagen? Du hingegen versprichst zu viel und kannst es dann nicht immer halten.«
    »O doch.« Schostakowitsch machte ein entschlossenes Gesicht. »Ich halte alle meine Versprechen, das verspreche ich dir.«
    »Sie sehen erschöpft aus«, sagte Nikolai. »Gehen Sie nach Hause zur Ihrer Familie und legen Sie sich früh schlafen.«
    Schostakowitsch ergriff seine Hand. »Was ich neulich über Sonja gesagt habe, war ernst gemeint. Sie hat eine große Zukunft vor sich, und Sie müssen sie um jeden Preis unterstützen.« Er blickte über den Platz. »Keine Straßenbahn in Sicht. Verdammt. Ich komme nicht mehr rechtzeitig nach Hause, um Maxim vom Dirigieren abzuhalten.«
    »Was?«, rief Sollertinski aus. »Dein Sohn hat angefangen zu dirigieren?«
    »Mit allem, was er in die Hände bekommt, Bleistiften, Stricknadeln – es muss verhindert werden. Ich dulde keinen Dirigenten in der Familie.«
    Nikolai sah ihm nach, als er über den Platz trabte. Dann wandte er sich Sollertinski zu. »Meint er das ernst?«
    »Ich fürchte, ja. Zumindest halbwegs. Seiner Abneigung gegen die taktstocktragende Rasse kommt höchstens noch seine Verachtung für Orchester gleich. Und für den Beruf des Lehrers natürlich.«
    Schostakowitsch, schon ein ganzes Stück von ihnen entfernt, blieb plötzlich stehen und drehte sich um. »Fußball!«, rief er.
    Nikolai legte eine Hand über die Augen. »Wie bitte?«
    »Fußball! Karten! Besorgen Sie welche für nächste Woche?«
    Nikolai winkte. »Ich kümmere mich darum!«
    »Pöbelhafter Zeitvertreib«, sagte Sollertinski wohlmeinend. »Begreife nicht, was Sie daran finden. Gehen wir noch einen trinken?«
    »Einen vielleicht«, sagte Nikolai. »Dann muss ich nach Hause.«
    »Erzählen Sie mir nichts. Elterliche Pflichten.«
    »Eben die«, sagte Nikolai.
Der erste Kampf
    Bei Hitze spielte das Orchester am schlechtesten. Die Fenster des Probenraums waren zu klein und zu weit oben, um mehr als ein Lüftchen hereinzulassen. An diesem Tag lief den Musikern schon der Schweiß über das Gesicht, bevor sie überhaupt losgelegt hatten, und malte ihnen große nasse Flecken unter die Arme. Wer mit dem Einspielen begonnen hatte, hielt mitten in den Arpeggien inne und kramte nach einem Taschentuch oder fächerte sich mit den Noten Luft zu.
    Elias stieg auf das niedrige Pult und strich seine Partitur glatt. Egal, wie viele hundert Proben er in den vergangenen zehn Jahren schon abgehalten hatte – in den Sekunden zwischen dem Betreten des Raumes und dem Erklingen des ersten Tons fühlte er sich jedes Mal wieder wie ein Hochstapler, der gleich mit roten Wangen auf die Musikschule zurückgeschickt werden würde.
    »Guten Morgen«, rief er über die chaotischen Geigenriffs hinweg, über die Flöten, die wie Schiffe vor der Einfahrt in einen Kanal immer denselben einzelnen Ton ausstießen, und das leise Summen der Gespräche, die sich darum drehten, wer mit wem schlief und welcher Regierungsvertreter Champagner trinkend mit dem neuen Jungstar des Kirow-Balletts in der Oper gesichtet

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