Dirigent
stöhnte. »Bitte keinen Marsch. Na schön, ich muss dich ja unterstützen, egal, was für einen Unsinn du ausheckst. Aber was wird bloß Mrawinski sagen?«
»Was Mrawinksi sagt, kümmert mich nicht.« Schostakowitsch sah rebellisch aus. »Soll er sich den Taktstock dahin stecken, wo die Sonne nicht scheint. Außerdem bekommter es vielleicht sowieso nicht in die Hände – was immer es ist, wenn es fertig ist.«
Seine Worte entbehrten jeder Grundlage: Alle wussten, dass Jewgeni Mrawinski, Leiter der Leningrader Philharmoniker, der einzige Dirigent war, dem Schostakowitsch vertraute, und das mittlerweile seit drei Jahren – seit ihren stürmischen Auseinandersetzungen über die Fünfte Sinfonie. Damals hatte Schostakowitsch zunächst mit steinernem Gesicht in der vierten Reihe gesessen und sich geweigert, irgendwelche Vorschläge zu machen, während Mrawinski am Klavier saß und jede Melodie im falschen Tempo herunterhämmerte, bis er Schostakowitsch so weit hatte, doch einzuschreiten. Bei der fünften Probe standen die Metronom-Zeichen dann in der Partitur, und eine Freundschaft war geboren, die sich weiter festigte, als Mrawinski mit Schostakowitschs Sinfonie den russischen Dirigentenwettbewerb gewann.
»Im Übrigen«, fügte Schostakowitsch etwas aufsässig hinzu, »gibt es in der Fünften einen Marsch! Zumindest die Andeutung davon. Und seitdem habe ich keinen mehr geschrieben.«
»Und deshalb hast du jetzt Anspruch darauf. Na ja, mach, was du willst. Aber ich fürchte um deinen häuslichen Frieden. Ich glaube kaum, dass deine Laune sich verbessert, wenn du an einem Marsch arbeitest.«
Schostakowitsch trank noch einen großen Schluck Branntwein. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Mir schwant jedenfalls nichts Gutes.« Er blickte finster in sein Glas. »Was machen wir, wenn die Gerüchte stimmen und die Deutschen uns hintergehen?«
Sollertinski trat wieder ans Fenster. »Ich weiß es nicht. Aber man wird uns schon sagen, was wir machen sollen – vielmehr wird man es uns ›vorschlagen‹. Seit wann haben wir bitte das, was man eine Wahl nennt?«
Schostakowitsch gesellte sich zu ihm und blickte auf die von Menschen wimmelnden Gehwege hinunter, diegeschäftigen Frauen mit ihren Einkaufskörben, die Gebäude, die lange Schatten auf die Straße warfen. »Es kommt, wie es kommt. Aber ich schwöre dir, dass ich Leningrad nicht freiwillig verlassen werde.« Er seufzte und besann sich plötzlich auf die unmittelbareren Belange. »Ich habe Nina versprochen, zu Hause zu sein, bevor Maxim ins Bett muss. Wie viel Uhr ist es?«
»Fünf vor halb sieben«, sagte Sollertinski, ohne auf seine Uhr zu schauen.
»Verdammt! Bist du sicher?«
»Ich würde mein Monatsgehalt darauf verwetten.« Sollertinski deutete auf eine über den Platz hastende Gestalt. »Karl Eliasberg. Immer in Eile, aber nie zu spät. Korrekt wie ein Schweizer Metronom und doppelt so zuverlässig. Weißt du was – als ich ihn neulich getroffen habe, rutschte ihm eine Mahler-Partitur aus den Händen! Passt gar nicht zu so einer alten Stabheuschrecke wie ihm. Aber anscheinend liebt er die Musik.«
»Was?« Schostakowitsch nahm seine Bücher, ließ sie wieder fallen, fegte Papiere von Sollertinskis Schreibtisch, trank sein drittes Glas Branntwein aus.
» Mahler «, wiederholte Sollertinski. »Elias muss doch klar sein, dass er keine Chance hat, diese deutsche Musik zu spielen – jetzt nicht und vielleicht nie wieder. Trotzdem scheint er davon so besessen wie du.«
»Ich kann jetzt weder über Mahler nachdenken noch über Karl Sowieso-Berg. Ich muss auf der Stelle nach Hause.«
»Immer mit der Ruhe! Ich begleite dich.« Sollertinski stellte die beinahe leere Branntweinflasche wieder in ihr Versteck. »Prost, Ludwig. Und trink in unserer Abwesenheit nicht alles aus.«
Als sie das Büro verließen, hörten sie eine Tür knallen, gleich darauf schnelle Schritte auf dem Flur über ihnen. Schostakowitsch warf einen Blick das Treppenhaus hinauf. »Ah, hallo! Vielen Dank für den Abend neulich!«
»Gern geschehen! Ohne Sie wäre die Feier nur eine halb so gelungene gewesen.« Es war Nikolai.
»Feier? Was für eine Feier?«, fragte Sollertinski. »Sollte es etwa eine Feier in Leningrad gegeben haben, zu der ich nicht eingeladen war?«
»Sollertinski hat ein hinreißendes Vorspiel verpasst, nicht wahr?« Schostakowitsch ging jetzt neben Nikolai die Treppe hinunter. »Eine schöne junge Cellistin. Hat gespielt wie ein Engel.«
»Wer?« Sollertinski
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