Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
Spiegelbildin der glänzenden Aktentasche an. Die kleinen Dellen im Leder ließen sein Gesicht verbeult aussehen; auf einer Seite war der Wangenknochen eingesunken, das linke Auge verschwand unter seinen Haaren. Und plötzlich war er wieder im Flur der alten Dmitrowski-Pereulok-Wohnung und hörte seine Mutter so hysterisch schreien, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Fremde Männer trugen seinen Großvater von der Straße herein, mit schlaff herabhängendem Kopf und merkwürdig verdrehtem Hals. Die Männer gingen so dicht an Elias vorbei, dass er das blutende Gesicht seines Großvaters hätte berühren können. Dort, wo seine Nase hätte sein sollen, war ein klaffendes Loch, Knochen schimmerten durch das Fleisch, und seine Augen waren zwei schwarze Schwielen. »Er ist in der Nähe des Bahnhofs überfallen worden«, sagte einer der Männer.
    Herr Eliasberg erschien und starrte teilnahmslos auf den verunstalteten Körper seines Vaters. »Wir haben ihn in einer Blutlache gefunden«, erklärte der Unbekannte, und Elias’ schreiende Mutter wurde von einer Nachbarin in die Küche geführt, während sein Vater die Männer anwies, den Körper ins Hinterzimmer zu tragen. (Den »Körper«! Als ob er ihn gar nicht kannte!) Dann krachte die Tür zum Hinterzimmer ins Schloss, und Elias stand allein im Flur. Er ging in die Knie und fasste mit den Fingern in das Blut; so kauerte er dort immer noch, als sein Vater trockenen Auges wieder herauskam. »Was zum Teufel machst du da?«, bellte er. Elias blickte mit blutbeschmierten Lippen zu ihm hoch, denn er hatte gehört, dass sich die Eigenschaften eines Menschen, den man bewunderte, auf einen übertrugen, wenn man dessen Blut kostete.
    Er erinnerte sich an den Geschmack, als wäre es gestern gewesen. Das Blut seines Großvaters hatte nach Metall geschmeckt, wie das Geländer der Pantelimonow-Brücke, über die er auf dem Weg zum Markt jeden Tag ging – keine Spur von Mut oder Tapferkeit darin. Stattdessen hatte esihm Angst eingeflößt. Er stellte sich vor, wie die Dunkelheit des Blutes sich in seinen Eingeweiden ausbreitete, ihn von innen vergiftete, in sein Gehirn eindrang und ihn schließlich verrückt werden ließ.
    »Ist Großvater tot?«, hatte er gefragt. Niemand hatte je mit ihm über den Tod gesprochen, und doch wusste Elias, dass er bei ihnen Einzug gehalten hatte. »Geh nach draußen spielen«, befahl Herr Eliasberg und wischte seinem Sohn mit einem alten Schuhputzlappen grob die Hände ab. Und Elias war hinausgegangen und hatte sich auf die Stufen vor dem Haus gesetzt mit Fingern, die nach Stiefelwichse rochen und nicht mehr rote, sondern braune Flecken hatten.
    Nein, Elias’ Vater hatte nicht geweint, als er seinen eigenen Vater so sah, ein Opfer willkürlicher Gewalt. Als Elias ihn schüchtern fragte, warum er keine Tränen vergoss, hatte sein Vater mit den Schultern gezuckt. »Tränen?« Es klang, als verstünde er das Wort nicht recht. »Tränen können weder die Vergangenheit zurückbringen noch die Gegenwart ändern. Wozu sollen Tränen gut sein?«
    Ja, in der Tat – wozu? , dachte Elias. Warum wegen eines Streits mit einem Oboisten weinen, wenn er sich daraufhin bloß verspätete?
    Das Licht draußen war so hell wie Schnee. Einen Moment lang blieb er geblendet oben an der Treppe stehen; dann ging er blindlings los. Rums! Er stieß mit einer dunklen Gestalt zusammen, die eben die Treppe heraufgerannt kam. Die Aktentasche flog ihm aus der Hand und krachte zu Boden, die Schnalle sprang auf, und Tschaikowski-Noten wirbelten durch die Luft.
    »Ach, verdammt!« Er blickte sich verzweifelt nach den Seiten seiner Partitur um, die wie Schmetterlinge umherflatterten. »So ein verdammter Mist!«
    »Mist, allerdings.« Es war niemand anders als Dmitri Schostakowitsch. »Bitte verzeihen Sie mir! Ich war so in Eile, dass ich Sie gar nicht gesehen habe.« Er lief wiederhinunter auf den Gehweg und sammelte die fliegenden Blätter ein, ohne sich darum zu scheren, dass er Passanten den Weg versperrte.
    »Nicht weiter schlimm.« Elias versuchte einen unbeschwerten Ton anzuschlagen. »Als meine Musiker die Noten vorhin gespielt haben, war das Chaos auch nicht geringer.«
    Schostakowitsch lachte. »Ach, Sie sind es!«, sagte er, als erkenne er Elias erst jetzt. »Der Dirigent Karl –« Er hielt inne, holte ein großes Taschentuch hervor und nieste kräftig.
    Bitte , dachte Elias beinahe verzweifelt. Bitte, Sie dürfen meinen Namen nicht vergessen haben. Nicht heute.
    »Karl

Weitere Kostenlose Bücher