Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
Toulouse spazierte er eines Tages mit einer Omega Speedmaster in das Hinterzimmer eines Juweliers, weil er wusste, der Inhaber wollte sie haben, und zwar für die Ecke seines Schaufensters, die den Angeboten aus Nachlässen vorbehalten war, und er sah, dass der Juwelier nicht allein war. Der Unbekannte richtete eine Glock auf Le Page und sagte mit ausländischem Akzent: »Sie betreten unerlaubt mein Terrain.«
Die Russenmafia, dachte Le Page, schloss die Augen und wartete darauf, zu sterben. Als nichts geschah, öffnete er die Augen wieder. Der Juwelier schmunzelte. »Mr. Davidoff möchte ... «
»Alexander«, sagte der Russe.
»Alexander möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.«
Le Page wartete, innerlich noch immer zitternd.
»Eine Omega Speedmaster in Nizza zu stehlen, um sie in das Schaufenster eines Ladens in Toulouse zu legen, ist dumm«, sagte Alexander.
Le Page unterdrückte den Impuls, den Mund zu verziehen. Er war hier, um mehr zu erfahren. »Warum?«
»Die Polizei in der einen Stadt spricht mit der Polizei in der anderen. Sie sprechen mit den Versicherungen. Diese Uhr«, sagte der Russe und deutete auf die Omega, »taucht in irgendeiner Datenbank auf, mit Bild und Seriennummer.«
»Also?«
»Also werden wir sie in Berlin oder in Amsterdam oder in Melbourne oder in Kapstadt verkaufen«, sagte Alexander.
Alexander wusste viel über Le Page. »Ich bewundere Ihre Fähigkeiten. Sie haben gute Nerven und sind intelligent.« Er musterte den geschmeidigen, asketisch wirkenden Dieb von oben bis unten. »Sie haben Ausstrahlung.«
Er bildete Le Page zum Kurier aus. Der überwiegende Teil der Aufgabe war legal. Le Page flog mit seinem Korsett voller Ringe, Halsketten, Armbänder und Uhren in eine Stadt wie Chicago und übergab Juwelieren und Schmuckfabrikanten die Lieferungen wie abgesprochen. Alles getreu den Buchstaben des Gesetzes, wenn man davon absah, dass einer der Juweliere eventuell eine gestohlene Tiffany-Brosche abnahm, der andere eine Patek Philippe. Das Finanzielle war bereits geregelt; Le Page hatte lediglich einzufliegen, zu liefern und wieder auszufliegen. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn sich Beschreibungen gestohlener Wertgegenstände in den Datenbanken von Polizei und Versicherungen befanden? Wie wahrscheinlich war es, dass ein Kripobeamter aus Berlin während seines Urlaubs in San Francisco in einem Schaufenster eine Rolex als die wiedererkannte, die in einer Wohnung in Kreuzberg gestohlen worden war? Oder dass ein Ermittler aus Melbourne eine Datenbank in Toulouse durchforstete?
Auf diese Weise machte Le Page fünfzigtausend Euro extra im Jahr, doch er geriet ins Grübeln. Im Rahmen einer Reise hatte er ein Perlencollier mit Perlen aus Broome im Werte von zweihunderttausend Euro abgeliefert, ein anderes Mal eine Blaue Mauritius von 1847. Seinerzeit hatte er sich gefragt, was so besonders sei an diesem kleinen Fetzen Papier. Nachdem er dahintergekommen war, dass die Marke mehr als eine halbe Million wert war, fing er an zu träumen. Es stellte sich auch Frust ein. Er fühlte sich verschaukelt.
Und so hatte Le Page während der letzten achtzehn Monate eigene Omega Speedmasters und Rolex Oysters auf diesen internationalen Reisen dabeigehabt und sie innerhalb eines eigenen Netzwerkes verkauft, an einen sorgfältig aufgebauten Kundenstamm.
Darunter auch seine Cousins in Australien.
Henri und Joseph Furneaux waren schon im Kindesalter mit ihren Eltern nach Melbourne ausgewandert. Inzwischen um die vierzig, waren beide Brüder in der Schmuckherstellung tätig und als Inhaber eines exklusiven Geschäftes in einem der östlichen Vororte verkauften sie ihre Kreationen an andere Juweliere. Jedes Jahr unternahmen sie ihre Verkaufstouren zu Kunden in Melbourne und Umgebung, anschließend dann ging es Richtung Osten und Norden, also war es ein Leichtes für sie, Le Pages TAG Heuer Chronographen und Queen Victoria Gothic Crowns sozusagen unter der Hand zu verkaufen.
Doch Le Page war noch immer frustriert. Henri und Joseph hatten stets ein Argument parat, warum sie ihm nicht das zahlen konnten, was er verlangte. Als er einmal eine Rolex Oyster von einem seiner Kontakte, einem Pfandleiher, gekauft und sie an seine Cousins am anderen Ende der Welt weiterveräußert hatte, belief sich sein Gewinn gerade mal auf ein paar hundert Euro.
Die Sonne ging jetzt unter, Le Page nippte an seinem Drink und sann über den Londoner Job nach. Er wusste, was die Papiere wert waren. Sein Standardhonorar
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