Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
nicht erstickte, sollte er erbrechen müssen. Die anderen Männer verfolgten das Ganze. Ihr Instinkt jedoch riet ihnen, Wyatt machen zu lassen. Die Kaltblütigkeit seines Vorgehens war ihnen nicht entgangen, also wandten sie sich wieder ihrer jeweiligen Beschäftigung zu — Umherwandern, Schlafen, Streiten. Wyatt spuckte in ein Taschentuch, säuberte sich Gesicht und Hände damit, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, setzte sich Parkers Brille auf.
Als er sicher sein konnte, dass niemand ihn beobachtete, fischte er zweihundert Dollar aus einem seiner Schuhe und steckte sie in die Tasche. Er trug stets Bares bei sich, irgendwo versteckt am Körper, es war ein natürlicher Reflex. Er wartete, seine Umgebung aufmerksam im Blick. Unter den anderen Männern hatte sich Passivität breitgemacht, auch außerhalb der in der Mitte des Ganges gelegenen Zelle spielte sich kaum etwas ab. Hin und wieder wanderte ein Polizist vorbei, vergewisserte sich, ob alle noch am Leben waren, niemand sich erbrochen oder einen Mitgefangenen angegriffen hatte. Zwei weitere Männer wurden eingeliefert, ein Dealer, übellaunig und fast noch ein Teenager, und ein in Tränen aufgelöster Mann mittleren Alters. Wyatt stand in unmittelbarer Nähe zum Gang und konnte hören, wie ihre Personalien aufgenommen wurden. Das Revier war unterbesetzt, also bedeuteten Aufnahme und Verwahrung einiger Betrunkener ein Ärgernis. Das hatte wenig mit echter Polizeiarbeit zu tun, erst recht wenn ein Mörder frei herumlief. Die Säufer kamen nach vier Stunden frei, die Kleindealer und Diebe wurden einem Richter vorgeführt, aber das ganze Prozedere würde sich am nächsten Tag wiederholen und auch am übernächsten.
Am frühen Nachmittag erschien der Custody Sergeant in Begleitung eines Arztes, und der gestörte Jugendliche wurde abgeführt. Später dann wurde den Studenten mitgeteilt, dass ihre Eltern draußen seien. »Wir entlassen euch in ihre Obhut«, sagte der Sergeant.
Zwanzig Minuten danach tauchte er erneut auf, um den Namen aufzurufen, den Wyatt bei seiner Einlieferung angegeben hatte.
Wyatt reagierte nicht.
»Warner«, wiederholte der Sergeant.
Wyatt löste sich von der Wand und sagte: »Das muss einer von den Typen da drüben sein.« Er deutete auf Parker und den Säufer.
Der Sergeant stieß beide mit dem Stiefel an. »Los, aufstehen.«
Sie rührten sich nicht. Der Sergeant fluchte und las den nächsten Namen auf seinem Klemmbrett vor. »Parker.«
»Das bin ich«, sagte Wyatt.
Der Sergeant führte ihn gerade zum Schreibtisch am Eingang, als sie zwei unangenehmen Typen in Anzügen Platz machen mussten, die den Gang hinunter zu den Zellen eilten. »Was ist los?«, fragte der Sergeant, seine Hand an Wyatts Ellbogen.
»Keine Ahnung«, erwiderte die Schreibkraft und sah dabei den Diensthabenden fragend an.
»Sie glauben, einer unserer Betrunkenen könnte der Täter von heute Morgen sein«, erklärte er.
Wyatt reagierte angespannt. Die Beamten hatten keine Fingerabdrücke von ihm genommen. Er war lediglich ein Betrunkener, der für ein paar Stunden seinen Rausch ausschlafen sollte. Aber was, wenn die Polizei entschied, von jedem in der Ausnüchterungszelle Fingerabdrücke zu nehmen? Wyatt war nie festgenommen worden, hegte aber keinen Zweifel, dass seine Fingerabdrücke in irgendeiner nationalen Datenbank gespeichert waren. Im Laufe der Jahre hatte er hin und wieder die Flucht antreten müssen, war gezwungen gewesen, ein Schlupfloch zurückzulassen, einen Banktresor oder eine Leiche. Sollte die Polizei einen Abgleich mit seinen Fingerabdrücken vornehmen, würden sie ihn wegen vergangener Delikte festsetzen, darunter bewaffneter Raubüberfall und Mord. Ganz zu schweigen davon, dass man ihn wegen des Mordes an Eddie Oberin näher unter die Lupe nehmen würde.
»Du machst Witze«, sagte der Sergeant.
Der Diensthabende sah Wyatt über den Schreibtisch hinweg an. »Also, was ist mit unserem Freund hier?«
Der Sergeant lachte. »Ist 'n Schluckspecht. Wir haben ihn vor der Schießerei aufgegriffen.« Er beugte sich über den Schreibtisch. »Such mal nach Parker.«
Der Beamte fuhr mit dem Finger eine Liste entlang, sagte: »Hab ihn«, und reichte einen großen Umschlag über den Schreibtisch.
Der Sergeant schob Wyatt durch eine Glastür auf den Bürgersteig. Zwischen dem Gerichtsgebäude und dem Polizeirevier verlief eine Straße für Anlieger. Parkende Autos, einige Platanen, Polizeibeamte, die zwischen beiden Gebäuden hin- und hereilten.
»Und
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