DJ Westradio
Uhr offen, weil so ziemlich alle DDR-Bürger schnell einen dieser begehrten Stempel benötigten. Es wurde zu einem regelrechten Happening für Leipziger Jugendliche, abends nach der Disco sich in eine der vielen Schlangen einzureihen und seinen Stempel abzuholen. Noch keine 18 Jahre alt, hatte ich nun ein Visum für die mehrmalige Einreise in die BRD im Ausweis. So einfach konnte das also sein: Stempel, Unterschrift, der nächste. Bitte – danke! Verrückte Zeiten.
Endlich waren wir an der Reihe. Die Grenzer kontrollierten flüchtig unsere Pässe – ein kleines Stempelchen mußte natürlich noch sein – und winkten uns durch. Einen Monat zuvor hätten die Grenzsoldaten womöglich noch auf uns geschossen, aber nun spazierte man einfach so nach Westberlin. Wir waren schon irgendwie ein bißchen stolz auf uns. Das hatten wir uns auf dem Leipziger Ring erdemonstriert. Aber es war kein Platz für Sentimentalitäten in diesem Augenblick. Es hatte eher etwas von alkoholträchtiger Silvesterstimmung.
Nun liefen wir auf Westboden, Westluft schnuppernd. Und gleich würden wir noch Westgeld in der Tasche haben. 50 Meter rechts vom Grenzübergang befand sich in einem Haus diese sagenumwobene Stelle, wo man als DDR-Bürger einmalig 100 DM Begrüßungsgeld abholen konnte, was wir natürlich sofort machten. 100 Deutsche Mark. Westgeld. Wir zeigten uns begeistert die Scheine. Ich überlegte, was ich mir von dem Geld kaufen würde. Mir fielen eine Menge Sachen ein, aber ich konnte mich überhaupt nicht entscheiden. Schallplatten? Klamotten? Acht Jahre zuvorhätte ich mir sofort das Playmobil-Piratenschiff geholt, aber dazu war es nun definitiv zu spät.
Nachdem wir das passende Geld in den Taschen hatten, lief unsere kleine Reisegruppe erwartungsvoll entlang der Mauer zum Potsdamer Platz. Hier war – nichts. Einfach nur ein großer, breiter Platz, der abgesperrt war. Ostseitig von der Mauer, die mittlerweile schon einige Löcher hatte, westseitig durch einen Zaun. Das war also der Westen? Die Götzens-Jungs schleusten uns durch die zahlreichen Schaulustigen, die an diesem scheinbar symbolträchtigen Ort den Hauch der Geschichte einatmen wollten.
Unser erster Stopp war nicht der Kudamm oder das KaDeWe, sondern der »Polen-Markt«, ein riesiger Flohmarkt in der Nähe des Potsdamer Platzes. Westwaren überall, wenn auch nur gebrauchte. Wir wühlten ziellos in den Kisten. Nach einer Stunde liefen wir weiter nach Kreuzberg, vorbei an Neubauten, die mich irgendwie an die DDR erinnerten. Zwischendurch stoppten wir an einer Döner-Bude. Mein erstes Westgeld gab ich so für orientalisches Fastfood aus. Aber es war lecker. Schnell noch eine Coca-Cola hinterher. Diesen Geschmack kannte ich ja schon. Die anderen kauften ihr erstes Dosenbier und freuten sich.
Schließlich waren wir in Kreuzberg. Es sah irgendwie ganz anders aus als in der ARD-Serie »Liebling Kreuzberg« mit Manfred Krug. An die Häuserwände waren überall linke Parolen und Anarcho-As gesprüht. Demo-Plakate sah man auch viele. Wir waren beeindruckt. Ich dachte sofort an »Tagesschau«-Berichte vergangener Jahre, wo am 1. Mai hier die Autos brannten und Autonome sich mit der Polizei stundenlangScharmützel lieferten. Doch solcherart Action wurde uns heute nicht geboten. An diesem Tag mußten wir nur auf die viele Hundescheiße aufpassen, die auf dem Fußweg lag.
Wir waren mit einem Bekannten der Zwillinge verabredet. Er nannte sich »Der wahre Heino« und sah wirklich aus wie der wahre Heino, nur ein paar Jahre jünger. Sie hatten ihn bei einem illegalen Toten-Hosen-Konzert in Ostberlin vor einem Jahr kennengelernt und seitdem Kontakt gehalten. Dieser Heino trat manchmal bei Punkkonzerten im Vorprogramm auf und sang zum Playback des echten Heino. Wir lungerten einige Stunden in seiner Wohnung rum, was ihn und seine Freundin, glaube ich, ziemlich ankotzte, aber die Götzens hatten das so arrangiert. Außerdem war es uns für längere Sightseeing-Touren durch Berlin einfach zu kalt. Thümi und ich hockten die ganze Zeit vor Heinos riesiger Plattensammlung. Ständig zogen wir LPs aus dem Regal, die wir bislang nur als Überspielungen auf Tape hatten. So sahen die also in echt aus. Der wahre Heino war außer seiner Funktion als Heino-Double auch noch Radio-DJ und hatte deshalb so viele Schallplatten. Wir beneideten ihn, waren aber gleichzeitig vom Überangebot erschlagen.
Abends gingen wir dann auf diese Party, von der uns die Götzens so viel erzählt hatten. Da saßen
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