DJ Westradio
Bilder aus China, wo wenige Wochen zuvor die Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen worden war. Diese Bilder sahen wir natürlich nur im Westfernsehen. Solche »chinesischen Verhältnisse« befürchteten wir nun auch in Leipzig. Gleichzeitig war die Empörung über das Verhalten der DDR-Oberen so gewachsen, daß man einfach nicht mehr zu Hause warten konnte. Also auf die Straße. Meine Mutter warnte mich nachmittags noch, daß es heute abend gefährlich werden könne. Gleichzeitig war ihr klar, daß sie mich wohl kaum davon abhalten konnte hinzugehen. Schließlich wollten sie und mein Vater ja selbst zum Friedensgebet.
Im Staatsbürgerkundeunterricht hatten wir gelernt, was eine »revolutionäre Situation« ist. Die Definition zum Auswendiglernen war: »Eine revolutionäre Situation besteht, wenn das Volk nicht mehr will und der Herrscher nicht mehr kann.« Natürlich waren damit alte Königreiche und westliche Demokratien gemeint, und es war völlig klar, daß im Sozialismus so etwas nie passieren könnte, weil ja hier die Widersprüche zwischen Volk und Regierung aufgehoben waren, denn das Volk und die Regierung waren ja eine Einheit. Soweit die Theorie aus den Schulbüchern. Doch in diesen Tagen wurde uns klar, daß unser Stabü-Lehrer uns angeschwindelt hatte. So etwas konnte überall passieren, auch bei uns. Und es passierte.
An diesem Montagabend ging ich mit Rüdi und Droge in die Stadt. Die anderen aus der Clique wollten ebenfalls zur Demo. Alle Geschäfte hatten bereits um 17 Uhr geschlossen. Wo wir auch langliefen, überall standen LKWs der Bereitschaftspolizei. Mit Hunden, mit Helmen, Schildern und Gummiknüppeln. Es war eine angespannte und gleichzeitig groteske Situation. Man ging so ganz harmlos aneinander vorbei, und beide Seiten wußten, daß man an diesem Abend noch gewaltsam aneinandergeraten könnte. Vorerst ließen uns die Polizisten in Ruhe. Vor den LKWs hatten sich stellenweise Menschentrauben gebildet, die auf die Polizisten einredeten. Hinter der Oper standen Betriebskampfgruppen. Hunderte, Tausende Uniformierte sahen wir auf unserem Weg. Das Friedensgebet war noch in vollem Gange, und so setzten wir uns auf eine Bank am Karl-Marx-Platz, direkt unter dem Karl-Marx-Kopf-Relief am Universitätsgebäude. Wir saßen stummnebeneinander in Erwartung der kommenden Ereignisse und schauten über den Platz zur großen Uhr an der Hauptpost. Es war 17.30 Uhr, und der Platz war fast leer, bis auf einige Polizisten und die Leute, die an den Straßenbahnhaltestellen standen. Direkt über der Uhr auf dem Dach stand eine Videokamera der Stasi, die uns anglotzte. Wir überlegten: Wie viele kommen heute zur Demo? Wird es heute »abgehen«? Werden die wirklich schießen? Der Buschfunk hatte sogar was von Panzern erzählt.
17.45 Uhr. Der Platz füllte sich mit Menschen. Ganz plötzlich und ganz still. Einzelne oder kleinere Personengruppen kamen und blieben einfach stehen, als ob sie auf jemanden warten würden. Kaum jemand unterhielt sich. Alle standen einfach nur so da. Angespannte Ruhe. Man sah, daß es keine Stasi-Typen waren, denn die erkannte man ja immer sofort.
Vom Gewandhaus kommend, erblickte ich plötzlich meinen Vater. Er wollte in die Thomaskirche, wo ebenfalls ein Friedensgebet stattfand. Trotz der vielen Menschen, die mittlerweile herumstanden, sah er mich sofort. Er hatte interessante Neuigkeiten: Heute würde es keinen Polizeieinsatz geben! In Kürze würde über den Stadtfunk, das waren die Lautsprecher an allen Straßenbahnhaltestellen der Innenstadt, ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit und zum Dialog verlesen werden. Die Demo wurde geduldet. Woher wußte er das nur? Er hatte bis eben noch an dem Aufruf mitgeschrieben zusammen mit Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, einem Pfarrer und drei SED-Bezirkssekretären. Die Kontakte hatten sich zufällig am frühen Nachmittag ergeben. Masur, den wir Kids vor allem kannten, weiler der einzige in Leipzig war, der einen schicken dunkelblauen Volvo fuhr, würde den Aufruf verlesen.
Mein Vater verabschiedete sich und ging weiter Richtung Thomaskirche. Dort sollte, wie in einigen anderen Kirchen, der Text verlesen werden, um schnellstmöglich viele Demoteilnehmer über die neue Situation zu informieren. Ich erzählte Droge und Rüdi, was ich soeben erfahren hatte. Sollten die SED-Bonzen wirklich nachgeben? Gleichzeitig wurde uns klar, daß wir die ersten Demonstranten auf dem Platz waren, die davon wußten. Die Verlesung des Textes über den Stadtfunk war
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