DJ Westradio
noch nicht erfolgt. Wir waren also die ersten, die keinen Schiß mehr haben mußten, auf die Demo zu gehen. Damit wurde uns natürlich auch indirekt der Heldenstatus aberkannt.
Die Hauptpostuhr zeigte 18 Uhr. Nun würde gleich das Friedensgebet in der Nikolaikirche zu Ende sein. Wenig später drängte sich ein schier endloser Zug von Menschen aus Richtung Kirche heran. Sprechchöre wurden laut. Die Menschen, die bislang auf dem Augustusplatz nur still gewartet hatten, reihten sich mit ein; der Zug nahm dieselbe Route wie am Montag zuvor. Menschenmassen überall. 70 000, würden wir später erfahren. Von Polizei und Kampfgruppen keine Spur, die waren verschwunden. Lautstark erschollen die Sprechchöre. Wir ließen uns treiben. So eine Demo hatten wir noch nie erlebt. Und diesmal schafften wir eine ganze Runde um den Leipziger Innenstadtring. Auch am Stasi-Gebäude vorbei. Zwischendurch hörte man über den Stadtfunk den Aufruf, von dem mir mein Vater erzählt hatte. Die befürchtete »chinesische Lösung« war nicht eingetreten.
Zu Hause sah ich in den »Tagesthemen« Amateuraufnahmen der Demo. Leipzig im Westfernsehen! Ich war begeistert. Alle konnten unsere Demo sehen. Meine Eltern riefen später aus einer Kneipe an, wollten wissen, ob ich gut nach Hause gekommen sei. Sie würden noch feiern. Dazu hatten sie auch allen Grund.
Die folgenden Wochen waren der pure Wahnsinn. Montags ging es zur Demo, an anderen Tagen mit Droge zu Punkkonzerten. Zwischendurch arbeiten in der Oper. Die Stadt stand unter Strom. Am 30. Oktober waren 300 000 Menschen auf der Demo. Der ganze Leipziger Ring war voller Leute. Honecker war schon längst zurückgetreten. Das Selbstbewußtsein der Menschen befand sich auf dem Höhepunkt. Wir glaubten, daß nun alles möglich sei. Meine Eltern hatten mir immer von Prag 1968 vorgeschwärmt, von Dubčeks »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Ob wir so was nun in der DDR durchsetzen könnten? Zusammen mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika? Immerhin redeten die verunsicherten SED-Bonzen nun auch von »Dialog« und von »Reformen«. Zu einer Demo bastelte Thümi ein Transparent. »Nie wieder Fahnenappell« stand darauf. Wir hatten diesen militaristischen Zirkus an unserer Schule immer absolut lächerlich gefunden. Außerdem erinnerte uns dieser Militärkram irgendwie an die Hitler-Jugend. Vielleicht könnte man dies den nachfolgenden Schulklassen nun endlich ersparen.
Doch der Höhepunkt der Ereignisse war noch nicht erreicht. Am 9. November saß ich mit Droge und Thümi abends zusammen in der »Erholung«, einer verrauchten Kneipe in einer Gartenkolonie, zehn Minuten Fußweg vom Steinplatz. Es war eine dieser »VierzigerDielen«, eine Kneipe, wo das kleine Bier nur 40 Pfennige kostete und entsprechendes Publikum anzog. Für unsere New-Wave-Clique war das eigentlich kein standesgemäßer Ort, aber man konnte hier die Älteren vom Steinplatz treffen. Thümi kannte sich in solchen Lokalitäten aus. Er wußte, daß man dem Kellner gleich bei der ersten Bestellung duzen und zu einem Schnaps einladen mußte, damit wir den Abend über immer schnell bedient werden würden. Der Kellner trank also einen Pfeffi-Schnaps auf unsere Rechnung, und der Service klappte wirklich. Zu vorgerückter Stunde kam Linke rein. Linke war einer der Älteren vom Steinplatz, groß und kräftig, mit rötlichen Haaren und Sommersprossen. Er stand auf Heavy Metal, war aber alles andere als ein typischer Metaller. Er mochte uns New-Wave- und Punk-Kids, und wir mochten ihn auch. Linke kam an unseren Tisch, grüßte und sagte ganz beiläufig: »Habt ihr schon gehört, die Mauer in Berlin ist offen.« Wir kriegten große Augen. »Was bitte?« – »Die Mauer ist offen. Ich hab’s im Fernsehen gesehen. Alle können jetzt einfach so rüber.« – »Was, die die ausreisen wollen?« fragten wir zurück. »Nein, alle, auch nur zu Besuch.« Damit hatte niemand gerechnet. Stimmte das wirklich? Ich stürzte nach Hause. Westfernsehen anmachen. Linke hatte nicht gelogen. Ich sah heulende Ostberliner, wie sie nach Westberlin rüberliefen – und auch zurück. Einen Tag später auf der Delicata-Disco verabschiedete sich Linke von uns, auch heulend. Er nutzte die Gunst der Stunde und ging rüber – für immer.
Das erste Mal
Mein erstes Mal war am 25. November 1989 früh gegen 9 Uhr, gut zwei Wochen nach dem Fall der Mauer. In der DDR ging gerade alles drunter und drüber. Heerscharen von DDR-Bürgern stürmten zu einem Kurzbesuch nach
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