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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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Westberlin oder in westdeutsche Städte gleich hinter der Grenze. Die Züge vom Leipziger Hauptbahnhof gen Westen waren tagelang hoffnungslos überfüllt. Chaotische Zustände auf den Bahnsteigen, drängeln, schubsen – wie auf der Flucht. So wartete ich erst mal den größten Ansturm ab. Immerhin hatte es wenige Tage nach Maueröffnung auf dem Leipziger Hauptbahnhof eine Tote gegeben, die von den Menschenmassen unter einen einfahrenden Zug geschoben worden war. Das erste Opfer der »friedlichen Revolution«. Getötet nicht etwa von Staatsbütteln beim Demonstrieren für Freiheit und Demokratie, sondern bei einer Stampede wild gewordener Zonis auf dem Weg nach drüben. Doch über dieses tragische Ereignis machten sich dieser Tage die allerwenigsten Gedanken. Alle wollten endlich den Westen sehen. Für uns bot sich der Entfernung wegen Westberlin als Reiseziel für einen ersten Schnuppertrip an. Die Götzens-Zwillinge hatten außerdem eine Einladung zu einer Szeneparty in Westberlin, und wir könnten mitkommen. Eine Party in Westberlin! In Kreuzberg! Mit echten Westpunks! Unsere Phantasie spielte verrückt. Thümi, Droge, Enny von unserer Band und ich waren voller Erwartungen.
    Da die Züge tagsüber immer noch völlig überfüllt waren, entschieden wir uns für einen Zug nach Berlin, der nachts um 2.22 Uhr von Leipzig losfuhr. Wir kamen eine Stunde vorher auf den Hauptbahnhof. Um diese Zeit war es dort im allgemeinen menschenleer, aber nicht in diesen Tagen. Menschenmassen überall, und das mitten in der Nacht. Mit reichlich Drängeln und Schieben schafften wir es jedenfalls alle in den Zug. Thümis Jacke riß dabei ein. Machte nix, schließlich ging es nach Westberlin.
    Während der Fahrt standen Droge und ich dicht gedrängt in dem Eisenbahnwaggon wie in einer Straßenbahn im Berufsverkehr. Thümi und Enny hatten bei uns keinen Platz mehr gefunden und blieben im Vorraum vor den Toiletten, wo noch einige Metaller mit reichlich Alkohol lagerten. Ich konnte sie durch die Glastür beobachten. Selbst auf der Toilette hatten sich zwei Typen niedergelassen. Nach gut einer Stunde fingen die da draußen plötzlich an, sich mit den Metallern zu prügeln. Alle anderen im Zug waren einfach nur müde beziehungsweise erwarteten froh das Paradies, aber nicht Enny und die Metaller. Gefahr, daß sich die Schlägerei in unser Abteil ausweiten konnte, bestand nicht, dazu war es einfach zu voll. Mir graute dennoch vor den übrigen knapp zwei Stunden Fahrzeit. Ennys Brille fiel runter. Thümi rief dazwischen: »Eh, hört auf, wir wollen doch alle nur das eine, nämlich nach Westberlin.« Dieses Argument der Deeskalation drang auch durch dichtesten Alkoholnebel. Sofort hatten sich die Akteure beruhigt und tranken gemeinsam Bier.
    Die Fahrt dauerte schier ewig, obwohl es nur knapp 200 Kilometer sind. Während wir dicht gedrängt imAbteil standen und durch die Nacht fuhren, mußte ich an unseren Familienurlaub im Sommer 1986 in Budapest denken. Diese Reise hatten mir meine Eltern zur Konfirmation geschenkt. Wir flogen mit der ungarischen Fluggesellschaft MALÉV, und an Bord gab es echte Pepsi-Cola zu trinken. Budapest erschien mir damals fast wie eine westeuropäische Großstadt. Überall sah man Reklame für Westprodukte, an jeder Ecke kleine Geschäfte mit Westschallplatten, Band-Anstekkern, BRAVO-Magazinen, Comics, schicken Klamotten. Direkt im Zentrum war sogar ein Fastfood-Restaurant im McDonald’s-Style. Mit Wegwerf-Geschirr! Was mich damals besonders beeindruckte: Abends war in den Straßen überall noch was los. Die Leute hockten nicht zu Hause vorm Fernseher, sondern gingen flanieren. Man saß in Straßencafés und trank Fanta. Außerdem war die Stadt voller Österreicher und Bundis. So ungefähr mußte also der Westen aussehen. Nur noch bunter.
    Irgendwann am frühen Morgen waren wir schließlich in Berlin, zunächst noch im Ostteil. Wir gingen zu den Götzens-Zwilligen, die seit dem 9. November schon einige Male drüben gewesen waren. Nicht weit von ihrer elterlichen Wohnung in Mitte steuerten wir dann den Grenzübergang an der Invalidenstraße an. Dort hieß es natürlich erst mal wieder warten in einer langen, langen Schlange. Die letzten Vorräte an Ostbier gingen dabei drauf.
    Das zu diesem Zeitpunkt noch benötigte Visum in Form eines Stempels im Personalausweis hatten wir uns bereits drei Tage nach Grenzöffnung in Leipzig besorgt. Damals waren die »Paß- und Meldestellen« derVolkspolizei einige Tage lang rund um die

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