DJ Westradio
Jahr auch noch Mitglied der Pionierorganisation »Ernst Thälmann«, was durch die feierliche Überreichung des blauen Halstuches besiegelt wurde. Ein Ritual beziehungsweise notwendiges Übel, dem sich nur Pfarrerskinder zu entziehen wagten. Ich wurde also Jungpionier. Unsere Pionierkleidung mußten wir zum Glück nur zu »offiziellen Anlässen« in der Schule tragen. Irgendwie verpaßten es meine Eltern aber, mir das entsprechende weiße Hemd mit dem Pionieremblem zu kaufen, und so trug ich immer ein weißes C&A-Hemd meines Cousins aus Bad Godesberg – sehr subtil.
Alle Schuljahre aufs neue mußten wir in unserer Klasse eine Leitung unseres Pionieraktivs, später des FDJ-Aktivs, wählen. Wir brauchten einen Vorsitzenden, einen Stellvertreter, Kassierer, Wandzeitungsredakteur, Agitator und einen Kulturfunktionär – quasi den gesamten Parteiapparat im Miniformat. Das war manchmal eine quälende Angelegenheit, denn niemand hatte richtig Lust auf so was. Glücklicherweise fanden sich dann doch einige, die die Last auf sich nahmen, vor allem die, die später mal auf die EOS wollten. Es war ja sowieso in den meisten Fällen eine Funktion, die nurauf dem Papier existierte, denn ein munteres Pionier- oder FDJ-Leben entwickelten wir nicht. Mit unserer Freizeit wußten wir was Besseres anzufangen. Natürlich mußte man als Wandzeitungsredakteur wenigstens einmal im Schuljahr eine Wandzeitung gestalten. Und die Pioniergruppe traf sich auch einmal im Monat und ging zum Beispiel ins Kino, wofür der Kulturfunktionär vorher telefonisch Karten bestellt hatte. Man definierte sich persönlich aber nicht über die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation oder in der FDJ, sondern nur über den Freundeskreis und über die Schulklasse. Diese Mitgliedschaften waren zu meiner Zeit in erster Linie eine bloße Formalität ohne jede persönliche politische Aussage. Keiner machte deswegen Streß, und dafür wurde man in Ruhe gelassen. Geistiger Papierkram. Dem Wunsch der Oberen, uns zu »sozialistischen Schülerpersönlichkeiten« erziehen zu lassen, kamen in den 80ern die meisten Lehrer an der Basis schon längst nicht mehr nach. Hauptsache, alles ging einigermaßen seinen Gang, und es gab keine Klagen.
Zum DDR-Schulalltag gehörten zu verschiedenen Anlässen und Feiertagen Appelle auf dem Pausenhof. Das bedeutete, daß alle Klassen von der 1. bis zur 10. sich in Dreierreihen-Marschformation vor dem Schulgebäude in einem Viereck aufstellen mußten. Drei Seiten Schüler, eine Seite Schulleitung, alle mit Blick in die Mitte. Die Lehrer standen immer hinter den Klassen, um die Rüpel in Schach zu halten, damit sie die Zeremonie nicht schmissen. Besonders schwierig wurde das, wenn Schnee lag und in unbeobachteten Augenblicken Schneebälle in die Nachbarklassen geworfen wurden.
Bei den 8. Klassen war eine Lücke, durch die dann immer die »Fahnendelegation« einmarschierte. Auf das lautsprecherverstärkte Kommando der Schulpionierleiterin »Fahnendelegation, Achtung! Im Gleichschritt – Marsch!« trotteten drei Schüler in die Mitte. Jeder von ihnen trug eine Fahne: die der Pionierorganisation, die der DDR, die der Arbeiterklasse. Zur Fahnendelegation konnte man vor allem »delegiert« werden, wenn man am Morgen des Appells unvorsichtigerweise in kompletter Pionierkleidung kam. Als Junge mit olivgrünem Karstadt-NATO-Parka ohne Pionierhemd hatte man keine Chance, genommen zu werden.
Besonders beeindruckend fanden wir Erstkläßler bei den Appellen immer die Begrüßung zwischen Schulleitung und Schülern. Während alle Schüler im Pionieralter die Begrüßung »Seid bereit!« mit einem lauten und hell klingenden »Immer bereit!« beantworteten (die älteren Schüler riefen teilweise schon keß »immer breit!«), grüßten die Acht- bis Zehntkläßler, die alle Mitglied der Jugendorganisation FDJ sein durften, mit einem gaaanz coolen, nuschelnden und sehr, sehr tiefen »Freundschaft!«, was auch am beginnenden Stimmbruch lag. In der Folgezeit verstärkten wir unsere großen Klassen beim Grüßen, indem wir mit ihnen gemeinsam mit gaanz, gaanz tiefer Stimme »Freundschaft« riefen.
Meine Schulklasse
Eine Schulklasse war nicht nur eine Zweckgemeinschaft, sondern zehn Jahre Schulzeit mit fast denselben Mitschülern bedeuteten eine feste Konstante im Leben eines Heranwachsenden. Außerdem war die Schulklasse ein interessanter Mikrokosmos, weil man über eine so lange Zeit fast jeden Tag zusammen war. Kaum etwas blieb einem verborgen.
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