DJ Westradio
Briefkästen geworfen, aber als sich die Diebstähle der Schlüssel häuften, weil andere Menschen ohne Westkontakte auch gerne Westpakete haben wollten, gab die Postfrau sie persönlich ab. Meist wurde man im Vorfeld telefonisch von drüben informiert. »Ein gelber Bomber ist wieder unterwegs«, hieß es da am Telefon aus Hannover. Die gelben Bomber waren nicht etwa die Vorgänger der gelben Engel des ADAC, sondern die gelben Postpakete. Die Paketschlüssel waren für Schließfächer, die in den Stadtvierteln verteilt standen. Man machte sich sofort auf den Weg, denn auch hier konnte die soziale Umverteilung vonstatten gehen.
Das erste Problem, das es zu lösen galt, waren die immer schlecht schließenden Schlösser. Kriegte man den Schlüssel rein? Ließ sich das Schloß überhaupt öffnen? Was machen, wenn das Schloß klemmte und der Schlüssel nicht mehr rausging? Bange Minuten. Dann endlich – die Tür öffnete sich nach einigem Rumruckeln und Fluchen. Wie groß war das Paket? Was würde wohl drin sein? War es beschädigt? Hatten die beim DDR-Zoll was rausgenommen? Erst mal nach Hause tragen. Westpakete waren immer schwer, die Schnüre schnitten in die Hand. Es schmerzte, aber im Inneren befanden sich die schönen Sachen. Absetzen, andere Hand, weiter.Endlich zu Hause. Das Paket wurde auf den Küchentisch gestellt, aber Vater war noch nicht da. Also warten, denn die Familie sollte komplett sein, wenn das Paket ausgepackt wurde, eben wie zu Weihnachten.
Es gab eine Redensart für Sachen, die man ganz schnell und ungeduldig auspackte: »aufruppen wie ein Westpaket«. Bei den echten Westpaketen machte man das aber eigentlich ganz anders: Meine Mutter zum Beispiel knotete den guten Verpackungsstrick immer vorsichtig ab und wickelte ihn fein säuberlich auf, denn den konnte man ja noch wiederverwenden.
Endlich waren alle da, und der Sesam öffnete sich. Ganz oben lag immer der handgeschriebene Inhaltszettel. Vergleichen, ob was fehlte. Und dann: Bescherung, mitten im Sommer. In Ermangelung eines Weihnachtsmannes verteilten wir selbst die Geschenke und packten sie aus. Meist Kaffee, Seife, Schokolade und andere Süßigkeiten. Manchmal war auch eine Dr.-Oetker-Backmischung dabei. Westkuchen. Interessant war auch das verwendete Knüllpapier, in das die Orangen eingewickelt waren, meist Seiten von bei uns verbotenen Westtageszeitungen, die der Zoll übersehen hatte. Eine Tüte mit getragenen Adidas-Turnschuhen für mich. Sahen noch gut aus. Neben den drei Streifen stand »Samba«. Waren das Tanzschuhe? Ich probierte sie gleich an: Sie paßten, Glück gehabt! Dann noch ein dunkelblaues Sweatshirt mit einem Rollschuh vorn drauf. Todschick! Er duftete nach Westwaschmittel und Westweichspüler. Gleich am nächsten Schultag würde ich es anziehen, auch wenn es dafür eigentlich zu warm war. Alle sollten schnuppern, daß ich nach Westen roch!
Scherbelberg
Am Westrand der Südvorstadt, kurz bevor der Auewald anfängt, gleich neben dem ehemaligen Polizeirevier, steht seit Mitte der 40er Jahre der Scherbelberg, ein riesiger Trümmerhaufen, ein Müllberg. Die Einzelteile Dutzender wunderschöner Gründerzeitwohnungen liegen unter ihm begraben. Noch heute sieht man zwischen den Bäumen Teile von gemauerten Schornsteinen, steinerne Türeinfassungen oder verrostete Eisenteile. Bis in die 70er Jahre wurde er als Müllhalde benutzt. Doch Tier- und Pflanzenwelt des nahegelegenen Auewaldes hatten sich den Hügel beizeiten einverleibt. Überall wuchsen nun Bäume und Sträucher, so daß man zweimal hinsehen mußte, um zu erkennen, daß dies eine Schutthalde war. Nur ganz oben sah man noch den gerade frisch angelieferten Bauschutt. In den 80er Jahren hörten die Lieferungen auf, und man begann auf seiner abgeflachten Spitze eine Wiese anzulegen. Außerdem stellte man am Rande des inzwischen asphaltierten Weges Kunstobjekte auf, Holzplastiken, die irgendwie alle an riesige Kackhaufen erinnern – passend zu den dort spazierenden Hunden und ihren Besitzern.
Im südlichen Nachbarkiez Connewitz war eine kleine Nachrichteneinheit der Roten Armee in einer alten Wehrmachtskaserne untergebracht. Wenn die Manöver hatte, fuhr sie nicht raus aus der Stadt auf einen Acker, sondern baute, wohl der strategischen Lage wegen, eine Funkstation auf dem Scherbelberg auf. Das war für alleSüdvorstädter aus dem Grunde lästig, weil die Bruder-Frequenzen dann unseren ZDF-Empfang überlagerten und man ihnen zu Hause vorm Fernseher beim Funken zuhören
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