Djihad Paradise: Roman (German Edition)
erschrecke ich. Julians Wangen, oder die Wangen des Typen, der aussieht wie er, sind eingefallen, eine elliptische Narbe leuchtet unter seinem Jochbein und die ganze Gestalt ist viel sehniger, als ich sie in Erinnerung habe. Und dann der Oberkörper. Irgendwas ist seltsam daran. Er ist viel zu dick und passt überhaupt nicht zum schlaksigen Rest.
Auf einmal kommt Bewegung in den Typen und mit der einen Hand greift er in seine Hosentasche und zieht ein Handy hervor, mit der anderen Hand wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Ich sehe ihn sprechen. Seine Züge verfinstern sich. Nur noch sechs Meter trennen mich von ihm und ich bin nun nah genug, um zu erkennen, dass der Typ nicht Julian ist. Natürlich ist es nicht Julian. Julian ist tot und der Typ sieht auch viel älter aus, als Julian jetzt wäre, wenn er noch leben würde.
»Ja?!«, blaffe ich ins Telefon. Es ist Saad. Ich sollte das nicht denken, aber ich hasse Saad. Und nun ruft er tatsächlich an und labert mich zu.
»Bist du bereit?«, fragt er und meine Hände fangen an zu zittern. Diesmal ist es nicht Angst, sondern Wut. Wut, dass sie mich kontrollieren und dass sie dafür ausgerechnet dieses Arschloch Saad schicken.
»Ja, ich bin bereit«, knurre ich zurück, lege auf und bin auf einmal alles andere als bereit. Die Wirkung des Nashid ist verschwunden und ich balle die Fäuste. Wieder klingelt das Handy und wieder ist es Saad. Ich drücke ihn weg und stopfe das Telefon zurück in die Hosentasche.
Als ich meinen Blick hebe, da sehe ich sie. Mir bleibt fast das Herz stehen. Keine sechs Meter von mir entfernt steht ein Mädchen, das aussieht wie Romea. Nein, sie sieht älter aus, reifer. Aber ich habe Romea ja auch seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie mustert mich. Schlingpflanzengrüne Augen starren mich ungläubig an. Verdammt. Romea. Niemand hat solch schlingpflanzengrüne Augen. Das kann doch gar nicht sein, Romea. Wieso ist sie jetzt hier? Ausgerechnet an diesem Tag?
Romea, diese Bitch. Diese Verräterin. Die Teufel selbst müssen sie geschickt haben. Haben sie mir geschickt, um mich von meinem Weg abzubringen, mich in Versuchung zu führen, mich in mein altes Leben zurückzuwerfen. Dabei ist sie mir inzwischen scheißegal. So was von egal. Schließlich war sie es, die eines Tages plötzlich alles hingeschmissen hat. Verschwunden ist sie und hat auf nichts mehr reagiert.
Und nun rennt sie hier herum wie alle anderen mit Plastiktüten mitten im Weihnachtsgewühl. Konsumiert wie alle. Alles, wogegen sie sich damals gewehrt hatte, tut sie jetzt offenbar selbst. Und trüge sie nicht ihr Kopftuch, würde ich sagen, sie ist der personifizierte Unglauben. Eine vom Glauben Abgefallene, das ist noch schlimmer, als nie geglaubt zu haben. Eine Murtadda. Dafür gebührt ihr eigentlich der Tod.
Ich stehe stocksteif herum und in mir gerät alles ins Rutschen. Ein innerer Erdrutsch. Kein Halten mehr. Diese verfluchten Teufel. Aber verdammt, warum trägt sie ihr Kopftuch noch? Aus welchem Grund macht sie sich, macht sie der Welt überhaupt noch irgendwas vor? Sie ist raus, verdammt, sie ist so was von raus und das schon seit über einem Jahr. Shania ist tot, vorbei, weg. Das da, das ist weder Shania, noch ist es Romea. Das ist der pure Hohn!
Und dabei hatte alles mal so groß angefangen. Romea und Julian, die fetteste Lovestory, die unsere Schule jemals gesehen hatte. Vergesst Romeo und Julia, Julian und Romea, das war mal das Größte, was ich mir damals hatte vorstellen können. Das Größte und Schönste und Endloseste. Gefühlte tausend Jahre früher. Aber das, das war vor Djihad Paradise. Und trotzdem ist da auf einmal so ein Schmerz. Ein Schmerz, der sich tief in mich hineinfrisst und ein Loch zurücklässt, in das ich stürze – mitten in die Vergangenheit.
»Sind wir schuld an dem, was sie (die Erwachsenen) getan haben und geworden sind?«
Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe
Ich war mal wieder von der Schule geflogen und diese hier hatte mich gnädigst mitten im Schuljahr aufgenommen.
»Deine letzte Chance, Julian«, hatte der Kowalski gesagt. »Ich würde vorschlagen, diesmal bleibst du nicht hinter deinen Möglichkeiten zurück.« Damit hatte er seine Predigt beendet.
Der Kowalski war Vertrauenslehrer und offenbar hatte er mit den Typen aus meiner alten Schule gequatscht.
Bla, bla, bla …, dachte ich. … hinter meinen Möglichkeiten … Du Mittelstands-Schnarchnase, du hast doch überhaupt keinen Plan, was bei uns
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