Djihad Paradise: Roman (German Edition)
Hilfe suchend zu Shirin. Sie nahm mich in den Arm und ergriff das Wort: »Liebe Schwestern. Beruhigt euch wieder. Natürlich hat Djamila den Tod verdient, aber Shania hat ganz recht, es ist nicht an uns, ihn herbeizuführen.«
Ich starrte Shirin an und konnte nicht glauben, was ich da hörte. Ein Mensch durfte doch nicht darüber richten, wer den Tod verdient hatte und wer nicht. Das war allein die Entscheidung Allahs. Ärgerlich befreite ich mich von ihrem Arm und ließ die Frauen zurück.
Als Shirin und ich uns am Abend noch einmal zufällig über den Weg liefen, brach ich einen Streit vom Zaun.
»Ich versteh dich einfach nicht, Shirin. Wie konntest du das nur sagen, dass Djamila den Tod verdient hat? Wie kannst du dir anmaßen, über so etwas überhaupt zu urteilen?«
»Ach, Shania. Du bist noch nicht lange genug dabei, um das alles hier zu verstehen«, sagte Shirin und lächelte.
Ich funkelte sie böse an. Dann sagte ich: »Sag es mir jetzt ins Gesicht! Sag mir, dass du das wirklich glaubst, dass Djamila den Tod verdient hat. Dann sind wir Freundinnen gewesen.«
»Nein, ich glaube das nicht. Aber du hast doch gesehen, wie sie sind.«
»Shirin! Ist dir klar, was du da treibst?! Du sagst andere Dinge, als du meinst. Das ist Heuchelei!«
Shirins Lächeln erstarb, und leise und ernst sagte sie: »Du verstehst das nicht. Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich hier zu behaupten.«
»Es geht hier auch nicht darum, sich zu behaupten, sondern darum, das Richtige zu tun«, fauchte ich sie an. Dann drehte ich mich um und ging.
»Shania!«, rief sie mir nach. »Jetzt warte doch mal!«
Aber ich wollte nichts mehr hören. Für heute hatte ich genug gehört. Genug, um mich hier auf einmal verdammt einsam zu fühlen.
Murat und ich hatten uns ziemlich schnell an das Leben in Alexandria gewöhnt und Murat hatte es tatsächlich irgendwann aufgegeben, sich über die seiner Meinung nach mangelhaften hygienischen Zustände zu beschweren. Das Leben hier spielte sich ein, eine tägliche Routine aus um halb fünf aufstehen, duschen, Wudu’, Fadschr, Koran-Unterricht, Zuhr, Arabischunterricht, ‘Asr, einkaufen oder eine Kleinigkeit essen gehen, Maghrib, Hausaufgaben, ‘Ischa’.
Damit war der Tag vorbei und für Blödheiten blieb gar keine Zeit. Und das war auch gut so, denn ab und zu machte sich noch immer Julian Engelmann in mir breit, der dann gerade gerne sonst was mit Romea getan oder ein Bier getrunken oder einen Stickie gequarzt hätte. Alhamdulillah gab es die Routinen. Der Mensch braucht Routinen, die ihm Halt geben, denn sonst denkt er nach. Und wenn der Mensch nachdenkt, kommt er auf dumme Ideen und ist nicht bei Allah.
Einmal abgesehen davon, dass ich Shania ganz unglaublich vermisste, fühlte ich mich aber trotzdem alles in allem sehr wohl auf dem Campus der Schule. Es war wirklich eine große Gemeinschaft. Wir waren alle Brüder, eine große, eine funktionierende Familie. Klar, da gab es natürlich auch Brüder, mit denen man weniger anfangen konnte als mit anderen, aber es gab so gut wie nie Feindseligkeiten untereinander. Wenn du eine Frage oder ein Problem hattest, konntest du dich einfach bei deinen Brüdern durchfragen. Denn egal, wen du gefragt hast, jeder kannte zumindest jemanden, der jemanden kannte, der dir helfen konnte. Alle waren jederzeit zum Gespräch bereit und das kannte ich bestenfalls aus der Moschee, aber nicht aus meinem restlichen Leben in Deutschland.
Aber das, das war irgendwie schon so weit weg, dass es gar nicht mehr real war. Mein ganzes Vorleben war nicht real. Nur Allah. Unser größtes Band hier war der Glauben und dieses Band war unheimlich stark. Nahezu reißfest. Außer, wenn einer vom Glauben abfiel. Wer abfiel, war ein Murtadd, und ein Murtadd, war so gut wie tot. Er existierte nicht mehr für die Gemeinschaft. Man sprach nicht mit ihm und ignorierte ihn. Angeblich kam es hin und wieder auch zu Todesfällen von Abtrünnigen. Erlebt hatte ich das bisher nie, aber selbst wenn, es gab ja auch nichts Schlimmeres, als vom Glauben abzufallen. Das war schlimmer, als schon immer kufr, ungläubig, gewesen zu sein. Wenn jemand geglaubt hatte und dann nicht mehr, das war noch viel schlimmer, als nie geglaubt zu haben. Was konnte also schlimmer sein, als zum Murtadd zu werden?
Wenn ich so richtig Abdel war und mir dann vorstellte, ich wäre wieder Julian Engelmann – dann kroch mir eine Gänsehaut über den Rücken. Dann war es fast unvorstellbar, dass ich jemals dieser
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