Djihad Paradise: Roman (German Edition)
mir noch die ganze Nacht im Kopf herum und ich fragte mich, was ihn denn davon abhielt, sich zu rächen. Ich verstand das nicht. Also, wenn das mit meinen Eltern früher jemals wirklich schön gewesen wäre und dann wäre jemand gekommen und hätte sie einfach so weggebombt, ich würde doch keine Sekunde zögern und ihnen alles dreimal zurückzahlen. Mal angenommen, irgendjemand würde Shania etwas antun, dann war es doch meine Pflicht als ihr Ehemann, sie zu rächen. Das wäre doch ein Angriff nicht nur auf sie, sondern auch auf mich. Und genauso wurde man doch auch als Sohn angegriffen, wenn die eigene Familie getötet wurde.
Zu Hause in der Gemeinde hatte ich mir ja schon öfter mit den Jungs Kämpfervideos reingezogen. Die waren echt cool. Ein bisschen wie Counterstrike, aber eben real. Echt tough, dass die tatsächlich ihr Leben für ihren Glauben opferten. Wir hatten sie uns angesehen, Dutzende Videos von Märtyrern. Und die waren alle mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben. Cool. Was war wirklich cool? Na, genau das. Ein echter Shahid war cool. Er war ein echter Zeuge, ein Märtyrer. Winner in Sachen Paradies. Der musste nicht lang klopfen, der wurde gleich auf einer Wolke oder so hineingetragen. Und dann sah ich mich mit der Flagge der Hizb-ut-Tahrir, der Partei der Befreiung, der weiße Schriftzug der Schahada auf weißem Grund. Sie wehte hinter mir her und ich, ich ritt durch die Wolken. Und wieder war es kein Pferd, auf dem ich ritt, sondern der Burak. Und unten auf der Erde fegten die berittenen Scharen dahin und sie folgten mir, egal, in welche Richtung die Flagge des Kalifat Islam auch wehte. Und ich … ich …
»Wach endlich auf, verdammt!«
Irgendwas zerrte an mir. Und ich presste die Lider über meine Augäpfel, weil ich unbedingt wissen wollte, wohin ich die Scharen führen sollte, aber ich wurde weiterhin geschüttelt und wütend riss ich schließlich die Augen auf und starrte in Murats verstörte Züge.
»Scheiße, was ist denn?«, knurrte ich ihn an. Ich war sauer. Jetzt würde ich nie erfahren, was das alles sollte.
»Los! Steh auf! Samir – Samir ist …«
Ich fuhr hoch.
»Was? Was ist mit Samir?«
»Er … er ist … da unten«, murmelte Murat.
Ich sprang aus dem Bett und schüttelte Murat. »Sprich in klaren Sätzen, verdammt. Was ist mit Samir?«
Und statt einer Antwort zerrte mich Murat in Samirs Zimmer ans offene Fenster und deutete nach unten. »Da.«
Ich starrte auf den Hof und da lag er. Völlig verdreht. Und mausetot. Ich schlug mit der Faust auf die Kante des Fensterbrettes, bis mir das Blut aus der Hand lief. Warum war ich ins Bett gegangen, anstatt bei ihm Nachtwache zu halten? Mir wurde flau und ich rannte ins Bad und übergab mich. Drei Mal übergab ich mich.
Dann ging ich mit Murat nach unten. Es war ein fürchterlicher Anblick und es wollte mir einfach nicht in den Kopf, wie man sechs Stunden vorher noch so lebendig sein und jetzt aussehen konnte wie eine aufgeplatzte Puppe mit verdrehten Gliedern.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Murat.
Der Schmerz riss mich fort. Wenn Samir konvertiert wäre, dann hätte es vielleicht noch Hoffnung für ihn gegeben, aber nun hatte er diese große Sünde begangen. Jetzt würde er für immer und immer und immer allen Qualen der Hölle ausgesetzt sein. Ich wandte mich ab.
»Wir … wir müssen die Schule verständigen«, sagte ich.
Das taten wir dann auch, aber der Leiter erklärte sich für nicht zuständig und rief stattdessen die Polizei. Die machten sich ein paar Notizen. Wir radebrechten irgendwas zusammen und dann nahmen sie ihn mit. Ich habe keine Ahnung, was mit Samir geschah, wahrscheinlich wurde er irgendwo verscharrt. Die Schule wollte jedenfalls nichts mit einer unkonvertierten Selbstmörderleiche zu tun haben. Überhaupt wurde die ganze Sache mehr oder weniger totgeschwiegen.
Als Omar, der ein paar Tage unterwegs gewesen war, am Abend zurückkam, wurde er ganz bleich. Oder war er schon davor so bleich gewesen? Irgendwie hatte ich schon seit ein paar Wochen das Gefühl, dass irgendwas mit ihm war, aber als ich ihn danach gefragt hatte, hatte er nur gelacht und gesagt: »Mir geht es bestens. Wie kann es einem zukünftigen Mudjahed auch anders gehen als prächtig?« Wie auch immer. Jedenfalls wirkte er völlig schockiert und fragte: »Er hat was? Aber er wollte doch konvertieren? Wieso hat er das gemacht?«
Ich schwieg. Omar war wohl nicht auf dem neuesten Stand, was Samirs Konversionswünsche
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