Doch die Sünde ist Scharlachrot
Sie wird nicht kampflos gehen. Sie fängt an zu schreien. Ich kann nicht fassen, dass du ihr das antust! Nach allem …«
»Wonach genau, Gwynder?« Daidres Stimme klang gepresst. »Nach allem, was sie für mich getan hat? Für euch? Für uns drei? Du scheinst ein sehr kurzes Gedächtnis zu haben.«
»Und deines reicht zurück bis zum Beginn der Zeit, ja?« Gwynder zwang noch einen Schluck der Flüssigkeit in den Mund ihrer Mutter. Das Ergebnis war das Gleiche wie zuvor. Ein Rinnsal floss über ihre Wange auf das Kissen. Gwynder versuchte mit wenig Erfolg, es wegzuwischen.
»Wir können sie in ein Hospiz bringen«, schlug Daidre vor. »Es muss hier nicht so weitergehen.«
»Und sie dort allein lassen? Ohne ihre Familie? Sie wegsperren und warten, bis wir Bescheid kriegen, dass sie tot ist? Also, da mach ich nicht mit. Und wenn du gekommen bist, um mir zu sagen, dass das alles ist, was du uns an Hilfe anzubieten hast, dann kannst du mitsamt deinem schicken Typen wieder abhauen. Wer er auch immer sein mag. Denn ein Cop ist der nicht. Cops reden nicht so.«
»Gwynder, nimm doch Vernunft an!«
»Verschwinde, Edrek! Ich hab dich um Hilfe gebeten, und du hast Nein gesagt. So sieht's aus, und wir werden damit fertig.«
»Ich bin bereit, innerhalb vernünftiger Grenzen zu helfen. Aber ich werde euch nicht nach Lourdes oder Medjugorje oder Knock oder wohin auch immer schicken, denn es ist unvernünftig, sinnlos – es gibt keine Wunder …«
»Gibt's ja wohl! Und ihr könnte eins passieren.«
»Sie stirbt! Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das überlebt niemand. Sie hat nur noch ein paar Wochen oder Tage oder vielleicht nur Stunden und … Willst du, dass sie so stirbt? Hier? In diesem Loch? Ohne Luft oder Licht oder ein Fenster, von dem aus sie das Meer sehen kann?«
»Mit Menschen, die sie lieben.«
»Hier gibt es keine Liebe. Die gab es nie.«
»Sag das nicht!« Gwynder fing an zu weinen. »Nur weil … nur weil … Sag so was nicht!«
Daidre machte einen Schritt auf sie zu, hielt dann aber inne. Sie legte eine Hand an den Mund. Durch ihre Brillengläser sah Lynley, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Dann lass uns unsere Wochen, Tage oder Stunden«, sagte Gwynder. »Verschwinde einfach.«
»Braucht ihr …«
»Verschwinde!«
Lynley legte die Hand auf Daidres Arm. Sie sah ihn an. Dann nahm sie die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel der Jacke über die Augen.
»Kommen Sie«, sagte er und schob sie behutsam in Richtung Tür.
»Gefühllose Fotze«, sagte Gwynder in ihrem Rücken. »Hörst du mich, Edrek? Du bist eine gefühllose Fotze. Behalt dein Geld! Behalt deinen Kerl! Behalt dein Leben! Wir brauchen dich nicht und wollen dich nicht, also komm nicht wieder her! Hast du mich gehört, Edrek? Ich hätte dich nie um Hilfe bitten dürfen. Komm nicht wieder her!«
Draußen vor dem Wohnwagen blieben sie stehen. Lynley sah, wie Daidres Körper bebte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid«, sagte er und drückte die Wange auf ihren Scheitel.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief eine Stimme. Lynley fuhr herum. Zwei Männer waren aus dem Schuppen getreten. Das mussten Goron und Daidres Vaters sein, erkannte er. Sie eilten auf sie zu. »Was ist hier los?«, verlangte der ältere Mann zu wissen.
Der Jüngere sagte nichts. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er kratzte sich ungeniert im Schritt, schniefte laut, und genau wie seine Zwillingsschwester blinzelte er kurzsichtig. Er nickte ihnen freundlich zu; nicht so sein Vater.
»Was wollen Sie hier?«, blaffte er. Sein Blick glitt von Lynley zu Daidre und zurück. Er schien sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, aber ihre Schuhe aus irgendeinem Grunde ganz besonders. Lynley erkannte, warum, als sein Blick auf Udys Füße fiel. Der Mann trug Stiefel, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Die Sohlen waren vorne eingerissen.
»Nur ein kurzer Besuch …« Daidre war einen Schritt beiseitegetreten, sodass Lynley den Arm von ihrer Schulter nehmen musste. Jetzt da sie ihrem Vater gegenüberstand, war keinerlei Ähnlichkeit zu ihm oder ihrem Bruder zu erkennen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Udy. »Wir brauchen hier keine Wohltäter. Wir haben es immer allein geschafft, und das tun wir auch jetzt. Also hauen Sie ab! Das hier ist Privatgelände, und wir haben ein Schild aufgestellt.«
Lynley ging auf, dass zwar die Frauen im Wohnwagen wussten, wer Daidre war, diese Männer hier hingegen nicht. Gwynder hatte ihre
Weitere Kostenlose Bücher